Einblick in die Welt des Despoten

Ex-KGB-Agent beschreibt Putin als „borniert“

Montag, 06. Juni 2022 | 15:00 Uhr

Nach einem Giftanschlag im Jahr 2001 hat Sergej Schirnow in Frankreich politisches Asyl erhalten und arbeitet dort unter anderem für den französischen Newssender LCI. Von 1984 bis 1992 war er Agent des sowjetischen Geheimdienstes KGB und machte während dieser Zeit auch Bekanntschaft mit Kreml-Derspot Wladimir Putin. Charakterzüge, die er an Putin erlebt hat, legt er genauso offen wie die Art des KGB, geeignete Kandidaten im Westen zu finden. Österreichs Ex-Außenministerin Karin Kneissl war Anfang der 90-er Jahre Schirnows Klassenkollegin.

Kneissl schien schon Anfang der 1990-er Jahre für eine Anwerbung vielversprechend zu sein, wie Schirnow im Interview mit dem Standard erklärt. „Sie war für Putin, lange bevor sie Außenministerin wurde. Ich hatte den Eindruck – und schrieb das auch in ihre Geheimdienst-Karteikarte –, dass sie eine gute Kandidatin sei, um von unseren Diensten angeworben zu werden. Ich teilte damals auch nach Moskau mit, dass sie Walzer möge. Vielleicht tanzte Putin bei ihrem Hochzeitsfest deshalb mit ihr“, betonte Schirnow im Interview. 1990 besuchte er im Auftrag des KGB die Pariser Eliteschule ENA.

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Wladimir Putin hat Schirnow bereits im Alter von 19 Jahren als Student kennengelernt. 1980 arbeitete er als Freiwilliger für die Telefonauskunft der Olympischen Spiele von Moskau. Mit einem Franzosen sprach er stundenlang am Draht. Das kam dem KGB suspekt vor und einer seiner Agenten überführte ihn in die Lubjanka, den berüchtigten KGB-Sitz. „Der kleine Mann in dem grauen Anzug hieß Wladimir Putin. Er hörte mir nicht einmal zu, sondern wollte mich partout als Systemfeind entlarven. Er genoss seine Macht, mit der er mir Angst zu machen versuchte. Und er war schon damals absolut borniert: Er hatte eine Idee, und die wollte er durchdrücken, obwohl er nicht das geringste Argument hatte“, berichtet Shirnow. Putins Verhalten erinnere ihn heute an die Vorgehensweise im Ukraine-Krieg. Im Verhör ließ Putin erst dann – und zwar blitzartig – von Shirnow ab, als dieser nebenbei angab, dass er einen Enkel des Parteivorsitzenden Leonid Breschnew kenne.

1984 kreuzte sich Shirnows Weg erneut mit dem von Putin. Beide waren im gleichen Ausbildungsgang des Instituts Andropow, der KGB-Ausbildung. Shirnow sah Putin aber nur für kurze Zeit. „Nach einem Straßenkampf in Leningrad, bei dem er sich einen Arm brach, fiel er im KGB in Ungnade“, berichtet der Ex-Agent im Standard-Interview. Ein Bericht hielt fest, Putin habe insofern ein psychologisches Problem, als er die Folgen seiner Entscheidungen und Handlungen nicht abzuschätzen vermöge. Für Gefahren habe er kein Gefühl; das berge Risiken für ihn selbst, aber auch für den KGB.

„Der Geheimdienst will, dass sich ein Agent sofort verzieht, wenn er einem Straßenkampf begegnet. Putin ließ sich aber darin verwickeln. Das tat er sicher auch, weil er Judoka ist und seinen Minderwertigkeitskomplex wegen seiner Körpergröße von 162 Zentimeter kompensieren will. Der KGB schob ihn jedenfalls nach Leningrad und dann in die DDR ab“, berichtet Shirnow.

Obwohl er in der Folge beim KGB auf dem Abstellgleis war, brachte es Putin in der Politik bis zum Staatspräsidenten. Auch im Kreml habe sich Putin laut Shirnow viel von der KGB-Mentalität bewahrt: „Putin ist nie wirklich ein Staatschef geworden, der wie der Ukrainer Wolodymyr Selenskyj sein Land und sein Volk hinter sich geschart hat. In seinem Inneren bleibt er ein Chef der Tscheka, der politischen Polizei. Das Land führt er wie ein Politbüro, mit engsten Vertrauten, darunter Ex-Agenten und Leibwächtern.“

Shirnow wurde 2001 selbst Opfer eines Vergiftungsversuchs in Moskau. Der Geheimdienst wollte, dass er nach seinem geregelten Abgang ihm wieder beitritt, doch Shirnow lehnte ab. Er verlor massiv an Gewicht, hatte nachts 40 Grad Fieber, lag schon fast im Sterben – doch die Ärzte fanden nichts. Eine Ärztin tippte auf Schwermetalle. „Da sagte ich ihr am Telefon, das natürlich abgehört wurde, ich zöge aus meiner Wohnung aus und ginge für Blutproben nach Frankreich. Zwei Tage später erhielt meine Wohnung ‚Besuch‘, die Beschwerden hörten schlagartig auf“, berichtet der ehemalige Agent.

Kritik äußert Shirnow auch an Russlands Heer. Die Armee verfüge zwar über mehr Mittel denn je, aber sie erweise sich als unfähig zu einer modernen Kriegsführung. Nicht einmal die Logistik halte Schritt. Sollte die Ukraine neue Waffen vom Westen erhalten, ist sich Shirnow sicher, dass die russische Armee auch im Donbass nicht mehr weiterkommt. Dass Putin Atomwaffen einsetzen könnte, schließt Shirnow völlig nicht aus: „Putin vermag die Folgen seines Tuns nicht abzuschätzen. Das macht es so gefährlich. Zumal Putin wie gesagt starrsinnig ist und sich von nichts abbringen lässt.“

Die russischen Geheimdienste sind laut Shirnow heute mächtiger als zu Sowjetzeiten sind. „Stellt man die verdoppelte Beschäftigtenzahl dieser Dienste und die halbierte Bevölkerungszahl Russlands gegenüber der Sowjetunion in Rechnung, ergibt sich, dass allein der heutige Inlandsgeheimdienst FSB viermal stärker ist als früher der KGB.“ Die sozialen Netzwerke seien für die russischen Geheimdienste zum Schlachtfeld eines hybriden Krieges geworden, die Desinformation, Propaganda und Cyberattacken betreiben würden.

Von: mk