Milo Rau im Zuschauerraum des NT Gent

Intendant Milo Rau: “Ich freue mich immer über Widerspruch”

Sonntag, 14. Mai 2023 | 10:53 Uhr

Ende Jänner wurde der Schweizer Theatermacher Milo Rau (46) zum Intendanten der Wiener Festwochen ab Juli bestellt. Seine Nachfolge als Leiter des NTGent wurde soeben ausgeschrieben und soll am 14. Juli verkündet werden. Am Samstag hatte seine Festwochen-Koproduktion “Antigone am Amazonas” in Belgien Premiere, ehe sie von 25. bis 27. Mai im Burgtheater gezeigt wird. In Gent versicherte er im APA-Interview im Hinblick auf Wien: “Ich bin bereits extrem gut und schön gelandet.”

APA: Herr Rau, gleichzeitig mit der Premiere von “Antigone im Amazonas” haben Sie eine “Erklärung des 13. Mai” veröffentlicht, mit der Sie und viele Prominente zur Unterstützung der Landlosenbewegung MST in Brasilien aufrufen. Woher kommt Ihr Engagement dafür?

Milo Rau: Schon bei unserer Produktion “Das neue Evangelium” haben wir mit Landarbeitern aus Süditalien zusammengearbeitet haben. Im Grund ist die Frage nach Boden und der internationalen Verteilung von Soja, Mais und Rindfleisch ja DIE Frage des 21. Jahrhunderts, und sie geht zurück bis zur Kolonialisierung. Damals waren es bloß zwölf Familien, die die brasilianische Erde bekommen haben – das setzt sich bis heute fort, hat sich zahlenmäßig sogar noch verringert. Eigentlich ist in der Verfassung festgeschrieben, dass das unrechtmäßig angeeignete Land an die Menschen verteilt wird. Das wird aber nicht durchgesetzt, weil die Lobby zu stark ist. Gleichzeitig versucht diese, ihre eigenen Praktiken mit einem System von Zertifikaten als nachhaltig zu deklarieren – ein glatter Etikettenschwindel. Mit dieser Erklärung versuchen wir zu zeigen, wie die Dinge zusammenhängen. Die große Gefahr ist, dass man die Rhetorik verschönert, aber die Praxis bleibt. Diese Landreform muss gemacht werden, wenn wir den Planeten retten wollen. Die Abholzung des Regenwaldes zur Schaffung riesiger Monokulturen muss endlich ein Ende haben.

APA: Was soll die “Erklärung zu 13. Mai” bewirken – außer Bewusstsein zu schaffen?

Rau: Ich hoffe tatsächlich, dass für MST damit eine größere Plattform geschaffen wird – das ist eine riesige soziale Bewegung, aber komischerweise bei den europäischen Konsumentinnen und Konsumenten komplett unbekannt. Das sind hunderttausende Familien, Millionen Menschen – und man weiß hierzulande nichts über ihre Agrarutopie, die eine radikale Landreform und eine ökologische Landwirtschaft umsetzen will. Wir sprechen dabei nicht von einem kleinen Level: Sie sind etwa die größten Reisproduzenten Lateinamerikas – und zwar wirklich auf biologischer Basis, wirklich grün, wirklich sozial. Für das Zusammenbringen von Produzenten und Absatzmärkten sind sie ein großes Vorbild. In Wien werden wir dazu eine Pressekonferenz machen und erste Produkte einführen.

APA: In Brasilien gab es im Vorfeld von “Antigone im Amazonas” Aufregung aufgrund um ein im April gemachtes Reenactment des größten Polizeimassakers an Landlosen, die 1996 eine Straße blockiert hatten. Dazu wurden auf Social Media Fake News in Umlauf gebracht, hieß es. Schlagen hier die Mächtigen zurück?

Rau: Ich glaube, dass die brasilianische Gesellschaft ähnlich wie die amerikanische eine geteilte ist. Bolsonaro und jetzt Lula haben ja nicht haushoch gewonnen, sondern beides waren knappe Siege. Zwischen diesen beiden Fronten gibt es eigentlich keinen Dialog. Auf der anderen Seite ist wahnsinnig viel Geld im Spiel. Der MST ist eine große Gefahr für die großen Konzerne. Wenn man sich anschaut, wer diese Kampagne fährt, dann weiß man, woher der Wind weht. Aber man kann ihn nicht stoppen – nicht auf Social Media.

APA: Es gab große Hoffnungen auf Luiz Inácio Lula da Silva, der für seine zweite Amtszeit als brasilianischer Präsident einen Stopp der Abholzungen versprochen hat. Diese sollen nach Berichten von Umweltschutzorganisationen aber unvermindert weitergehen. Wie begründet sind die Hoffnungen auf einen Systemwandel?

Rau: Ich glaube schon, dass es einen Grund für diese Hoffnung gibt, aber man kann Lula auch einfach als das kleinere Übel sehen. Lula ist das letzte Mal gefallen, weil er sich gegen die Großfamilien und gegen das Großkapital gestellt hat. Dass wichtigste ist, dass man die Firmen zwingt, anders zu produzieren – indem man die Produkte, die sie jetzt machen, nicht mehr kauft.

APA: Ist “Antigone im Amazonas”, das ja in Kürze bei den Wiener Festwochen gezeigt wird, quasi ein Signature Dish, das Sie servieren und steht paradigmatisch für Ihre Arbeit, die man künftig erwarten kann?

Rau: So würde ich das nicht sehen, das würde diesem Stück eine große Last aufbürden. Ich inszeniere und schreibe ja viel. Sagen wir: Es ist ein Baustein dessen, was meine Arbeit ausmacht. Es ist im Grunde ein Reisebericht. Der wichtigste Moment des ganzen Abends ist für mich das Reenactment auf der gesperrten Bundesstraße – als theatraler Moment. So hängt alles miteinander zusammen.

APA: Apropos Reisebericht: Wie stehen die Reisevorbereitungen für Wien? Vor dreieinhalb Monaten wurden Sie als Intendant designiert, schon in einem Jahr geht Ihre Festwochen-Reise los.

Rau: Ich war seither oft in Wien. Ich bin bereits extrem gut und schön gelandet. Ich kannte das Team vorher nicht, aber es ist ein sehr flexibles und cooles Vehikel. Ich hatte überhaupt keine Akklimatisierungsschwierigkeiten. Jetzt sind ja gerade die letzten Festwochen von Christophe (Slagmuylder, Anm.) gestartet, und ich werde in den nächsten Tagen nach Wien kommen und mir manches anschauen. Um Hermann Hesse zu zitieren: “Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.”

APA: Ich dachte, Sie kämen eher mit einem Karl-Kraus-Zitat. Vielleicht: “Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.”

Rau (lacht): Nein, nein. Zunächst ist einmal alles toll – weil alles neu ist. Die ersten Festivals werden ein Ausprobieren sein, nächstes Jahr gibt es noch Überschneidungen mit Dingen, die von Christophe auf den Weg gebracht wurden und wir zu Ende führen werden. Für mich ist jetzt mal Lehrzeit angesagt, bevor ich dann das große Wort schwinge.

APA: Aber Kraus bleibt wie angekündigt ein Schwerpunkt?

Rau: Auf jeden Fall, wir werden viele Veranstaltungen dazu haben. Man hat mir aber eingeschärft, ja noch nichts zu verraten.

APA: Dann kommen wir mehr zum Theoretischen. Sie haben ein “Wiener Manifest” angekündigt, ähnlich dem Genter Manifest. Steht das schon in den Grundzügen?

Rau: Es gibt ein Handke-Zitat: “Ich schreibe, um mich meiner selbst zu vergewissern.” Ich schreibe natürlich das “Wiener Manifest”, um für mich selbst herauszufinden: Warum Wien, warum Festival, warum Wiener Festwochen? Und ich finde es gut, wenn man explizit ist. Beim NTGent kann man ein Buch aufschlagen und nachlesen, wofür sie stehen. Und wenn man das nicht gut findet, kann man es kritisieren. Für mich ist es wichtig, sich angreifbar zu machen – indem man eine Basis schafft, aufgrund der man diskutieren kann.

APA: Österreich geht derzeit politisch nach rechts, auf Bundes- wie Länderebene und in den Umfragen für die nächste Nationalratswahl. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Rau: Grundsätzlich freue ich mich immer über Widerspruch. Ich hatte immer ein Problem, in der Schweiz zu arbeiten, weil das keine Widerspruchsgesellschaft ist. Ich glaube, Österreich ist eine Widerspruchsgesellschaft. Das kann von allen Seiten kommen. Oft kommt der extremste Widerspruch von links. Natürlich ist eine Gesellschaft, die sich in einer politischen Bewegung befindet, angreifbarer, dadurch aber auch interessierter an Kunst, als eine, die keine Probleme hat. Interessante Zeiten sind gute Zeiten für Kunst.

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

Von: apa