Ukraine setzt erste Nadelstiche

Ukrainische Gegenoffensive laut Kiew bereits im Gang

Donnerstag, 25. Mai 2023 | 18:54 Uhr

Die seit langem erwartete ukrainische Gegenoffensive gegen Russlands Truppen hat nach Auskunft des ukrainischen Präsidentenberaters Mychajlo Podoljak bereits begonnen. “Die Gegenoffensive läuft schon seit Tagen”, sagte er in einem Interview des italienischen Fernsehens am Mittwochabend. Zugleich bestritt er, dass Kiew an den Angriffen in der russischen Region Belgorod beteiligt sei. Podoljak sagte generell, dass die Ukraine russisches Gebiet nicht attackieren wolle.

“Das ist ein intensiver Krieg entlang einer Grenze von 1.500 Kilometern. Unsere Aktionen haben bereits begonnen”, ergänzte Podoljak, ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, laut italienischer Übersetzung. Zu den Angriffen auf Belgorod meinte er, Russland und sein Präsident Wladimir Putin seien nicht mal in der Lage, ihr eigenes Territorium zu verteidigen: “Das, was in der Grenzregion passiert, ist ein Schock für Putin und wird zu seinem Ende führen.” An die italienische Journalistin gerichtet sagte er: “Wir benutzen die Waffen, die ihr uns gegeben habt, um russische Stellungen in den von Moskau besetzten Gebieten zu zerstören, Donbass und Krim eingeschlossen.” Falls F16-Kampfflugzeuge geliefert würden, könnte “endlich” der Luftraum geschlossen werden, sagte Podolyak.

Unterdessen haben die russischen Wagner-Söldner nach Angaben ihres Chefs Jewgeni Prigoschin mit dem Abzug aus der ostukrainischen Frontstadt Bachmut begonnen. Bis zum 1. Juni solle die Stadt komplett den regulären russischen Streitkräften zur Kontrolle überlassen werden, sagte Prigoschin in einem am Donnerstag veröffentlichten Video. Die Wagner-Truppen würden sich zur Erholung und Vorbereitung auf die nächsten Einsätze in ihre Lager zurückziehen. Nach einer Pause seien sie für neue Gefechtsaufgaben bereit, sagte Prigoschin. Wagner habe bei der Einnahme von Bachmut 20.000 Kämpfer verloren. Prigoschin gab die Zahl der Toten in einem Video bekannt, in dem er in Kampfausrüstung neben einem beschädigten Gebäude zu sehen ist.

Der Wagner-Chef und das russische Verteidigungsministerium hatten am Wochenende die komplette Einnahme der Stadt im Gebiet Donezk, die einmal 70.000 Einwohner hatte, verkündet. Prigoschin avisierte dabei auch den Rückzug ab 25. Mai. Die Ukraine wies zurück, dass die seit Monaten umkämpfte Stadt komplett unter russischer Kontrolle sei.

Die Ukraine erreichte indes nach eigenen Angaben im Zuge eines Gefangenen-Austausches die Freilassung von 106 Soldaten. Die Soldaten, darunter acht Offiziere, seien bei Kämpfen Bachmut gefangen genommen worden, teilt Regierungsmitarbeiter Andrij Jermak mit. “Jeder einzelne von ihnen ist ein Held unseres Staates.”

Die ukrainische Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar sagte am Donnerstag, die Wagner-Truppen in den Vororten von Bachmut würden durch reguläre russische Soldaten ersetzt. Prigoschins Kämpfer seien aber noch in der Stadt selbst. Die ukrainischen Streitkräfte selbst würden derzeit die Vororte im Südwesten von Bachmut kontrollieren, sagte Maljar. Der Feind versuche, den Vormarsch der Kiewer Truppen an den Flanken durch Artilleriefeuer zu stoppen. Zudem zögen die Russen zusätzliche Kräfte zusammen, um ihre Flanken zu sichern, sagte sie. Nach Darstellung Maljars wurden auch Vorstöße der russischen Truppen in verschiedenen Richtungen zurückgeschlagen und verhindert. Die Aktionen der Russen hätten keine Erfolge, meinte sie. Insgesamt bleibe der Osten des Landes das “Epizentrum” der russischen Angriffe.

In der vergangenen Nacht hat die Ukraine nach eigenen Angaben 36 Drohnen des Typs Shahed aus iranischer Produktion abgeschossen und damit alle russischen Luftangriffe abgewehrt. “Der Feind setzte 36 Shaheds ein”, schreibt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf dem Kurznachrichtendienst Telegram. Ziel der Drohnenangriffe waren der ukrainischen Luftwaffe zufolge militärische Einrichtungen und kritische Infrastruktur im Westen des Landes. Auch im Luftraum um die Hauptstadt Kiew seien mehrere Drohnen abgefangen worden, sagt der Leiter der Kiewer Militärverwaltung. Es war der zwölfte Angriff auf Kiew in diesem Monat.

Auch auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim sind in der Nacht russischen Angaben zufolge sechs Drohnen abgeschossen worden. Es habe “keine Opfer oder Verletzten” gegeben, erklärte der von Moskau eingesetzte Gouverneur, Sergej Aksjonow, am Donnerstag im Onlinedienst Telegram.

Unterdessen hat der russische Geheimdienst FSB die Festnahme von zwei ukrainischen “Saboteuren” gemeldet. Nach Angaben des russischen Inlandsgeheimdienstes wurden zwei Ukrainer festgenommen, die geplant haben sollen, Strommasten von Atomkraftwerken in Russland in die Luft zu jagen. Ihr Ziel war laut der staatlichen Nachrichtenagentur RIA, die Abschaltung der Reaktoren zu bewirken. “Eine Sabotagegruppe des ukrainischen Auslandsgeheimdienstes (…) versuchte, etwa 30 Stromleitungen der Atomkraftwerke in Leningrad und Kalinin zu sprengen”, erklärte der FSB.

Die US-Geheimdienste vermuten einem Zeitungsbericht zufolge auch ukrainische Spezialeinheiten hinter einem Drohnenangriff auf den Kreml Anfang des Monats. Sie seien zu dem Schluss gekommen, dass vermutlich Spezialeinheiten des ukrainischen Militärs oder Geheimdienstes dahinter stecken dürften, schreibt die “New York Times”. Abgefangene russische und ukrainische Kommunikation habe zu dieser Einschätzung geführt. Die US-Beamten gingen demnach nicht davon aus, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj alle verdeckten Einsätze absegne. Es sei unklar, inwieweit er über solche Einsätze im Voraus informiert sei.

Podoljak sagte Reuters, die Ukraine habe nichts mit dem “seltsamen und sinnlosen” Drohnenangriff auf den Kreml zu tun. Russland versuche, die westlichen Waffenlieferungen zu beinträchtigen, indem es die Ängste des Westens vor einer möglichen Eskalation aufgrund angeblicher ukrainischer Angriffe auf russischem Boden ausnutze.

Von: APA/Reuters/AFP/dpa