Der junge "Gammler" Günther und seine Freundin Doris

“Günther”: Ein “Gammler” und Plattensammler erzählt

Donnerstag, 01. Juni 2023 | 07:15 Uhr

Biografien über Prominente gibt es wie Sand am Meer, über einen “Giftler, Gammler, Plattensammler”, wie der Untertitel der Lebensgeschichte von “Günther” lautet, wohl aber erst eine: Autor Andi Appel hat ein stimmiges Porträt über einen Musikliebhaber, jahrelangen Suchtmittalabhängigen und Zeitzeugen des Wien im jugendkulturellen Umbruchs verfasst. Der Namensgeber des Buches, Günther, wuchs in einer Zeit auf, in der Langhaarige auf der Straße beschimpft wurden.

Der heute 69-Jährige entdeckte als Nachkriegskind früh den Rock and Roll als Ausflucht aus dem trüben Bubenklassen- und Internatsalltag. Seine erste gekaufte Single war “The Last Time” der Rolling Stones, die sein Leben lang seine Lieblingsband blieben. Scheidung der Eltern, Probleme in der Schule: Da kamen die Beatles, das neu gegründete Radio Ö3, die Piratensender und Konzerte (das erste: The Troggs in der Stadthalle) gerade recht.

Günther erlebte die Wandlung von heute amateurhaft wirkenden Auftrittsbedingungen (keine PA, eine Box links von der Bühne, eine rechts; Bands, die abwechselnd auf der linken und rechten Bühnenseite auftraten, getrennt von ein paar hingestellten Palmen) zur gigantischen Stadionshows mit. Appel lässt in der Sprache des Protagonisten eine aufregende Zeit Revue passieren, in der heimische Gruppen wie die Webbs Crew (mit einem Prä-Drahdiwaberl Stefan Weber am Mikro) oder später Novak’s Kapelle für einen Aufbruch in der Szene sorgten.

Die Wege Günthers führten in den Volksgarten: “Wir waren ‘de Gammler’ vom Theseustempel”, heißt es im Buch. “Es gab dort kein Lokal, kein Zelt. Wenn es regnete, konnte man sich direkt im Tempel unterstellen. Ansonsten saßen die Leute einfach auf den Stiegen, viele Musiker darunter, Harri und Jano Stojka, der blutjunge Hansi Dujmic mit ganz langen Fendern spielte dort öfters Gitarre, sehr gut sogar.” Zeitungen berichteten damals von Drogenrazzien rund um das Gebäude, tatsächlich kam Günther dort in ersten Kontakt mit Rauschmitteln.

Das Buch nimmt Leserinnen und Leser mit auf Besuche in ebenso legendäre wie verrufene Lokale wie die Camera und das Voom Voom (Wolfgang Ambros, ein anderer häufiger Gast dort, schrieb das Vorwort zu “Günther”). Längst geschlossene Plattengeschäfte wie das Why Not und der Meki wurden zu Pilgerstätten von Musikfreaks, die Arena wurde besetzt und schließlich nicht nur zum Ort großartiger Konzerte, sondern auch Günthers Arbeitsplatz. Wer beim Aufblühen der Gegenkultur dabei war, wird beim Blättern wohl nostalgische Gefühle hegen. Für alle anderen macht Appel die Atmosphäre spürbar.

“Günther” verschweigt aber auch nicht den “Giftler”: Eine lange Abhängigkeit von Heroin wird alles andere als beschönigt oder gar heroisiert. Ehrlich und offen thematisiert die Biografie die dunklen Seiten der Sucht. Dass Günther im Juli 2022 zum 18. Mal “seine” Stones live erleben konnte, hat vermutlich einen Grund: So wie der Wiener einer der ersten Zivildiener des Landes war, wurde er in eine der ersten Methadon-Gruppe der österreichischen Geschichte aufgenommen.

(S E R V I C E – Andi Appel: “Günther”, mit einem Vorwort von Wolfgang Ambros, resonance Verlag, 212 Seiten, vier Seiten Fotostrecke in Farbe, 24 Euro, www.resonance.at/buch)

Von: apa