Demographen prognostizieren massiven Rückgang durch Vertreibung

Bevölkerung der Ukraine könnte bis 2052 stark schrumpfen

Mittwoch, 10. Juli 2024 | 09:06 Uhr

Von: apa

Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat zu einer der größten Migrationsbewegungen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Bis Mitte 2023 sind 5,9 Mio. Menschen aus der Ukraine geflüchtet, weitere 5,1 Mio. Personen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Österreichische Demographinnen und Demographen prognostizieren nun einen weiteren massiven Bevölkerungsrückgang bis 2052, im schlimmsten Fall könnte die Einwohnerzahl des Landes um 31 Prozent schrumpfen.

In der neuen Ausgabe des alle zwei Jahre erscheinenden “European Demographic Data Sheet” hat ein Forschungsteam des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und des – von ÖAW, Uni Wien und Internationalem Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) getragenen – Wiener Wittgenstein Centre Bevölkerungstrends in 45 europäischen Ländern untersucht und visualisiert. Unter anderem haben sie dabei die langfristigen Folgen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine auf die Entwicklung von Bevölkerungsgröße und -struktur des Landes analysiert.

“Der Krieg in der Ukraine hat den wohl größten Migrationsstrom in Europa seit der Vertreibung der Deutschen aus vielen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst”, erklärte Tomáš Sobotka vom Institut für Demographie der ÖAW in einer Aussendung. Schon seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 habe die Ukraine mit einem langjährigen Bevölkerungsrückgang zu kämpfen, der auf niedrige Geburtenraten in Verbindung mit relativ hohen Sterblichkeits- und Auswanderungsraten zurückzuführen sei, schreiben die Wissenschafter in der Publikation. Der Krieg habe diese Entwicklung “dramatisch beschleunigt”. Bevölkerungsstruktur und -dynamik des Landes würden dadurch “für viele Jahrzehnte nachhaltig negativ beeinflusst”, so Sobotka.

Um die Bevölkerungsentwicklung der Ukraine bis 2052 zu prognostizieren, haben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter vier Migrationsszenarien angenommen. Dem pessimistischsten Szenario “Langer Krieg und geringe Rückkehr” zufolge könnte die Bevölkerung um 31 Prozent schrumpfen, von 43,3 Mio. Einwohnern Anfang 2022 auf 29,9 Mio. Einwohner 2052. Selbst im optimistischsten Szenario, in dem sich die Ukraine schnell erholt und es mehr Zu- als Abwanderung gibt, wird ein Bevölkerungsrückgang von 21 Prozent auf 34,3 Mio. im Jahr 2052 erwartet.

Diese Entwicklung gehe mit den Herausforderungen einer alternden Bevölkerung und einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung einher, mit entsprechender Belastung von Wirtschaft und sozialen Sicherungssystemen des Landes, betonen die Forscher. Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur betreffen insbesondere die jüngeren Altersgruppen: Zwischen 2022 und 2052 wird die Bevölkerung unter 20 Jahren im optimistischsten Szenario um 35 Prozent und im pessimistischsten Szenario um 43 Prozent zurückgehen.

Die Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge sind den Demographen zufolge Frauen – Mütter und Großmütter – mit Kindern und Jugendlichen. Männer machen nur ein Viertel der in Europa aufgenommenen erwachsenen Flüchtlinge aus.

Deutschland (1,04 Mio.) und Polen (976.000) haben die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, sieht man von den 1,3 Mio. Ukrainern ab, die seit Ausbruch des Krieges nach Russland gegangen sind. Mitte 2023 lebten weiters 349.000 ukrainische Flüchtlinge in Tschechien, 213.000 in Großbritannien, 178.000 in Spanien, 165.000 in Italien, 161.000 in Bulgarien und 133.000 in Rumänien. Nach Österreich sind rund 100.000 Menschen aus der Ukraine geflüchtet.

Zu der großen Zahl ukrainischer Flüchtlinge in Russland würden “nur sehr wenige empirische Daten vorliegen”, erklärte Sobotka auf Anfrage der APA. Die meisten davon würden wohl aus dem Osten der Ukraine, einschließlich der besetzten Gebiete, stammen und auch russischsprachig sein. Es gebe aber sicher auch Personen darunter, die “unfreiwillig in Russland sind, zum Beispiel, weil ihr Gebiet besetzt wurde und sie keine Möglichkeit hatten, in ein anderes Land zu ziehen”.

Gemessen an der Gesamtbevölkerung sind Montenegro (6,8 Prozent), Moldawien (4,3) und Tschechien (3,2) sowie die baltischen Staaten Estland (2,8), Litauen (2,4) und Lettland (2,3) die Länder mit den relativ höchsten Anteilen ukrainischer Flüchtlinge. In Österreich beträgt deren Anteil an der Bevölkerung 1,1 Prozent.

Wie aus der Analyse hervorgeht, machen nur in fünf europäischen Ländern ukrainische und nicht-ukrainische Flüchtlinge zusammen mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus: Dabei handelt es sich um Lettland (12,3 Prozent der Bevölkerung sind Flüchtlinge), Estland (7,8), Zypern (7,6), Österreich (3,5) und Deutschland (3,4). In den anderen Ländern mit einem hohen Anteil an Flüchtlingen, wie Montenegro (6,9 Prozent), Moldawien (4,5) und Türkei (4,3) kommen die Flüchtlinge hauptsächlich entweder aus der Ukraine oder aus anderen Ländern.

(SERVICE – Internet: www.populationeurope.org)