Von: mho
Bozen – Nach dem Erfolg der ersten Abende wird die 37. Ausgabe des Festivals Tanz Bozen am 22. Juli mit zwei weiteren Highlights fortgesetzt. Der franco-tunesische Choreograf Radhouane El Meddeb zeigt mit Les Cygnes sont morts! (Studio, 19.30 und 20.15 Uhr, Ticket 5 Euro) seine Interpretation des Sterbenden Schwans, während das Ballet National de Marseille einen vierteiligen Abend als Italienpremiere zeigt, der ganz im Zeichen vier starker Choreografinnen – Lucinda Childs, Tânia Carvalho, Lasseindra Ninja, Oona Doherty – steht (22. Juli, Stadttheater, 21 Uhr).
Mit Les Cygnes sont morts! hat Radunane El Meddeb eine bewegende Hommage an die tausenden Männer, Frauen und Kinder geschaffen, die im Mittelmeer gestorben sind. Die Auftragsarbeit für Tanz Bozen entstand im Rahmen des Projektes, das die Essenz des legendären Balletts Der Sterbende Schwan von Mikhail Fokin für Anna Pawlowa in eine moderne Ästhetik und in zeitgenössischen Tanz übersetzen sollte.
El Meddeb ergänzt die Originalmusik von Camille Saint-Saëns um einen elektronischen Soundteppich, ein Tanz für all die verzweifelten Menschen, die sich auf der Suche nach einem besseren Leben aufs Meer begeben. In seinen Anmerkungen zum Werk schreibt El Meddeb, der nicht nur Choreograf sondern auch Performer dieses Stücks ist: „Für mich sind diese Menschen wie Schwäne, weiße Vögel, die die Ruinen ihres Lebens hinter sich lassen und nur noch dafür kämpfen, den Kopf hochzuhalten. Vor ihnen liegt ein schrecklicher, grausamer Tod ohne Würde, ein ungerechter Tod, der sie aus dem Hinterhalt überfällt, während sie alles zurücklassen mussten. Die Schwäne, die ich tanze, versuchen mit aller Kraft, den Kopf über Wasser zu halten, kämpfen auf ihre Art für Freiheit und Würde. Weit weg von Propaganda und Straßenschlachten sind sie in ihren eigenen Kampf um Leben und Tod verwickelt. Ich tanze für sie, weil ich finde, dass es höchste Zeit ist, ihnen ein Denkmal zu setzen und all die Menschen zu würdigen, die mein Mittelmeer verschluckt hat. Die Schwäne sind tot.“
Mit einem 22-köpfigen Ensemble, das mit seiner Vielseitigkeit ein breites Spektrum von Tanzstilen interpretieren kann, ist das Ballet de Marseille für neue Herausforderungen bestens gerüstet. Eine davon ist der Auftrag von Théâtre de la Ville und Théâtre du Chatelet aus Paris für vier genreübergreifende Choreografien, die vier verschiedene Stile des zeitgenössischen Tanzes repräsentieren: Childs Carvalho Lasseindra Doherty.
Ein facettenreiches Programm, das vier poetische Visionen zeigt, und dabei den Bogen von den USA nach Europa spannt: von der Schlüsselfigur der amerikanischen Postmoderne Lucinda Childs bis zur portugiesischen Künstlerin Tânia Carvalho, von der queeren Ikone des französischen Voguing Lasseindra Ninja bis zum nordirischen Rising Star Oona Doherty, Preisträgerin des Silbernen Löwen auf der Biennale von Venedig 2021.
Die Dekonstruktion des klassischen Tanzvokabulars, eine minimalistische Wiederholung choreografierter Phrasen und das Ausnutzen der gesamten Bühne für mehr Dynamik in der Bewegung prägen die Arbeiten von Lucinda Childs seit den 1970er Jahren. Ihr Tempo Vicino eröffnet den Abend. Vor 12 Jahren ist das Stück für das Ballet de Marseille entstanden, nun greift es die Choreografin mit neuen Tänzer*innen auf. Zur Musik von John Adams’ Son of Chamber Symphony, die synkopierte Jazz-Rhythmen und sonore Klangblitze ineinandergreifen lässt und somit dem Tanz Kraft verleiht entwickelt sich ein Wunderwerk an strengen Mustern und geometrischen Pfaden.
Es folgt One of Four Periods in Time von Tânia Carvalho, portugiesische Choreografin und Musikerin, Tänzerin und Malerin deren Kreationen sich an düsteren Orten, irgendwo zwischen Expressionismus und cineastischen Zitaten bewegen. Ihre Kunst ist ein mysteriöser Kosmos, in dem Sprache und Semantik alles bestimmen. Seit mehr als 20 Jahren entwickelt Tânia Carvalho ihren multidisziplinären Weg konsequent weiter. Zum Soundtrack von Vasco Mendonça, konstruiert Carvalho eine faszinierende Partitur, in der Gesten in bildhaften Posen eingefroren und unbeweglich gemacht werden.
Lasseindra Ninja, eine Ikone des französischen Voguing, die mit Mood zum ersten Mal für ein “klassisches” Tanzensemble choreografiert, präsentiert eine Clubbing-Nummer. Ihre Kreation zeigt nicht die aus dem Voguing bekannten Martial Arts, vielmehr geht es ihr um die Gruppe, indem sie typische Posen in einen größeren Kontext stellt. Die Tänzer*innen tragen knallrosa Lurex-Outfits, die Nachtclub-Atmosphäre versprühen. Und über allem stehen die eindringlichen Rhythmen von Boddhi Satvas Maboko Na Ndouzou.
Lazaru von Oona Doherty beschließt den Abend mit einer Adaption für das gesamte Ensemble ihres Solos The Ascension into Lazarus. Schnelle Positionswechsel und spannende Verschiebungen lassen das Individuum, das sich kompakt, entschlossen und vielleicht in der Hoffnung auf eine „Auferstehung“ bewegt immer wieder aus der Gruppe heraustreten.