Von: mk
Bozen – 44 Stunden arbeitet eine Vollzeitkraft durchschnittlich in Südtirol, doch für Beschäftigte einiger Branchen ist die Wochenarbeitszeit besonders lang: 55 Stunden sind es im Schnitt in der Landwirtschaft, 54 im Gastgewerbe, 47 im Baugewerbe. Gerade in den beiden letztgenannten Wirtschaftsbereichen fällt Südtirol im Vergleich zu Tirol und Trentino negativ auf. AFI-Präsident Andreas Dorigoni warnt: „Mehrere Gründe sprechen dafür, die Wochenarbeitszeit nicht übermäßig zu strecken: Die Qualität der Arbeitsleistung sinkt, die Fehlerhäufigkeit und die Unfallgefahr steigen. Kein Wunder, dass Südtirol in Italien der Negativrekordhalter in Sachen Arbeitsunfälle ist.“
Die EWCS-Befragung von 2021 mit 4.500 Interviews in der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino fördert immer neue Erkenntnisse zutage und ermöglicht einen fundierten Vergleich der Südtiroler Arbeitswelt mit der gesamten Europaregion und zukünftig auch mit ganz Europa. Diesmal sind die Arbeitszeiten Thema, genau genommen das Ausmaß von Arbeitswoche, Überstunden, Nachtarbeit und übliche Wochenstunden.
Ab und zu lange Arbeitszeiten zu haben ist dabei gar nicht einmal das Problem: „Wer lange arbeitet, wird irgendwann müde und weniger leistungsfähig – das ist normal. Entscheidend ist, ob man es schafft, in der Freizeit die Batterien wiederaufzuladen“, so AFI-Forscher und Arbeitspsychologe Tobias Hölbling. „Wer aber ständig zu lange arbeitet, ist irgendwann so erschöpft, dass die knapp bemessene Freizeit nicht mehr reicht, um wieder zu Kräften zu kommen. Das schadet Körper und Geist und auch dem Unternehmen – es sinkt nämlich die Qualität der Arbeitsleistung, während gleichzeitig Fehlerhäufigkeit und Unfallgefahr steigen.“
Drei Südtiroler „Buckelbranchen“
In welchen Branchen in Südtirol ist die Arbeitswoche am längsten? Nimmt man nur die Vollzeitarbeiter in den Blick, so sind dies die Landwirtschaft (55 Wochenstunden im Schnitt), die Hotellerie und Gastronomie (54) und das Baugewerbe (47).
Erwähnenswert jedoch: Während die Landwirtschaft in der gesamten Europaregion eine arbeitsintensive Branche ist – eine Vollzeitbeschäftigung kann überall locker über 50 Stunden umfassen – stechen zwei andere Südtiroler Branchen aus der Europaregionsreihe heraus: die Hotellerie und Gastronomie sowie das Baugewerbe.
Wer in Südtirol in der Hotellerie und Gastronomie in Vollzeit beschäftigt ist, arbeitet mit 54 Wochenstunden im Schnitt nicht nur deutlich länger als seine Kollegen in Tirol oder im Trentino (in beiden Fällen 47 Wochenstunden), sondern kennt auch kaum eine Pause: Mehr als die Hälfte der Befragten arbeitet in Südtirol dort an sechs, ein Viertel gar an sieben Tagen in der Woche. Positiv hebt sich diesbezüglich das Bundesland Tirol ab: nur 38 Prozent der im Gastgewerbe Beschäftigten arbeiten an sechs Tagen in der Woche und nur sieben Prozent arbeiten durch. Hierbei scheint der Selbstständigen-Anteil eine Rolle zu spielen: Nördlich des Brenners sind nur elf Prozent der im Gastgewerbe Beschäftigten selbstständig, hierzulande sind es 29 Prozent. Hölbling dazu: „Wie das Bonmot so schön sagt: Selbständig sein heißt selbst und ständig.“
Zum Baugewerbe: Südtiroler Bauarbeiter arbeiten in Vollzeit durchschnittlich 47 Wochenstunden, das ist ebenfalls signifikant länger als die Branchenkollegen in den beiden anderen Landesteilen (in beiden Fällen 44 Wochenstunden). Erschwerend kommt in Südtirol noch hinzu, dass ein hoher Anteil der Bauarbeiter Überstunden leistet. Mehr als 50 Prozent der Mitarbeiter in dieser Branche gibt an, regelmäßig Überstunden zu machen, während es im Bundesland Tirol nur 35 Prozent und im Trentino nur 24 Prozent sind. Spiegelt sich in den langen Südtiroler Arbeitszeiten mit den vielen Überstunden jener Bauboom wider, der durch den Superbonus 110% ausgelöst worden ist und zum Zeitpunkt der Erhebung im Jahr 2021 ganz Südtirol erfasst hatte?
Arbeitskräftemangel? Teilzeit aufstocken!
Eingedenk der aufgrund von Ermüdung sinkenden Qualität der Arbeitsleistung und steigenden Unfallgefahr sollten Unternehmen und Organisationen darauf bedacht sein, die Arbeitszeiten nicht zu lange zu strecken. Da mag so mancher einwenden: Wer erledigt dann die Arbeit? Neues Personal ist teuer und schwer zu finden – Stichwort Fachkräftemangel.
Dazu Tobias Hölbling: „Spannt die Teilzeitkräfte mehr ein! Die vorliegende Studie zeigt nämlich, dass viele Teilzeitbeschäftigte gerne ein paar Stunden aufstocken möchten. Zu nennen sind hier vor allem die Branchen Handel und Sonstige Dienstleistungen“. Tobias Hölbling sieht darin Potenzial: „Wenn die Rahmenbedingungen aller Branchen von Seiten der Unternehmen und der Politik so gestaltet würden, dass die Kräfte jener freigesetzt würden, die gerne ihre Teilzeit aufstocken würden, wäre schon etwas gewonnen“.
Zum Projekt
Um einen fundierten Einblick in die Arbeitsbedingungen in der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino zu erhalten, ist im Jahr 2021 eine umfassende Befragung durchgeführt worden. Ganz nach dem europäischen Vorbild der alle fünf Jahre europaweit stattfindenden Erhebung der Arbeitsbedingungen (EWCS) von Eurofound haben die Euregio und ihre Partnerinstitute Arbeiterkammer Tirol, AFI | Arbeitsförderungsinstitut Südtirol und Agenzia del Lavoro Trient eine umfassende Befragung mit 4.500 Interviews (1.500 pro Landesteil), durchgeführt. Die Ergebnisse werden nun scheibchenweise vorgestellt.