Von: mk
Bozen – Konsumstörungen – ob durch Alkohol, Medikamente, Glücksspiel oder digitale Medien – greifen tief in familiäre Strukturen ein. Darauf weisen Maria Lintner und Stefania Sepp, Psychologinnen und Psychotherapeutinnen beim Verein HANDS, anlässlich des Internationalen Tages der Familie am 15. Mai hin. Die Abhängigkeit eines Familienmitglieds erschüttert die emotionale Balance, belastet Beziehungen und kann Angehörige selbst krank machen. HANDS begleitet seit 43 Jahren Menschen mit Konsumproblemen in ganz Südtirol, jährlich rund 1.500 Personen. Ebenso wichtig wie die Hilfe für Betroffene ist die Unterstützung ihrer Familien.
Sucht macht das Leben aller Beteiligten unberechenbar. Während Betroffene schleichend in die Abhängigkeit geraten, entwickeln Angehörige oft eine sogenannte Co-Abhängigkeit: Sie entschuldigen das Verhalten, räumen Hindernisse aus dem Weg oder übernehmen Verantwortung, die nicht die ihre ist. Typisch ist der Glaube, ohne ihre Hilfe könne der oder die Süchtige nicht überleben. Der Wunsch, das Suchtmittel zu „entfernen“, kollidiert jedoch mit der Realität – Veränderung kann nur aus der betroffenen Person selbst kommen, betont Maria Lintner von HANDS. Es entstehen Kreisläufe aus Kontrolle, Schuldgefühlen, Vorwürfen und Rückzug – ein Wechselspiel zwischen Hoffnung und Ohnmacht.
Ein Beispiel: Alexandra (Name geändert) wendet sich regelmäßig an HANDS. Ihr Bruder Martin leidet seit Jahren an einer Alkoholkonsumstörung, Phasen der Abstinenz wechseln sich mit Rückfällen ab. In ihrer Sorge übernimmt sie Verantwortung über seine Grenzen hinweg: Sie möchte ihn kontrollieren, bei sich aufnehmen, zur Therapie drängen, obwohl sie selbst Mutter zweier kleiner Kinder ist. Doch solche Muster helfen nicht weiter. Martin muss selbst bereit sein, Hilfe anzunehmen. Externe Begleitung für Angehörige wird in solchen Situationen essenziell.
Hilfe für Angehörige: Raus aus der Co-Abhängigkeit
Ein erster Schritt zur Veränderung ist das Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit gegenüber der Sucht. Diese „Kapitulation“ sei kein Aufgeben, sondern ein aktiver Befreiungsschritt, erklärt Stefania Sepp von HANDS: „Wer erkennt, dass er oder sie das Verhalten anderer nicht kontrollieren kann, gewinnt Autonomie zurück.“ Angehörige lernen in Therapie oder Selbsthilfegruppen, ihre eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, gesunde Grenzen zu setzen und sich von überhöhtem Verantwortungsgefühl zu lösen.
Auch wenn ein Ausstieg aus der Sucht gelingt, was keineswegs selbstverständlich ist, bleibt nichts wie zuvor. Beziehungen müssen neu gestaltet, Erwartungen überdacht und Rollen verändert werden. Nur wenn alle Beteiligten offen für Entwicklung sind, kann familiäre Heilung gelingen.
Therapie wirkt besser mit familiärer Einbindung
Die Erfahrung von HANDS zeigt deutlich: Ist die Familie in den therapeutischen Prozess eingebunden, steigt die Erfolgsquote deutlich. In Familiengruppen, Paargesprächen oder Einzelberatungen kann ein gemeinsames Verstehen entstehen; das ist die Grundlage für Veränderung.
Ein Beispiel: Ein älterer pensionierter Mann mit Glücksspielproblematik wurde über Monate hinweg von seiner Familie unterstützt, zur Schuldnerberatung begleitet, zu Therapieterminen ermutigt. Heute lebt er abstinent, hat einen realistischen Schuldenplan und neue Zuversicht. Anders verhält es sich bei einem gleichaltrigen Mann, dessen Familie sich völlig zurückgezogen hat. Hier sind Rückfälle an der Tagesordnung. Seine Angehörigen haben nie ein Gespräch begleitet, er kämpft weiterhin alleine.
Zugehörigkeit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Dennoch falle es vielen Angehörigen schwer, ein Problem zuzulassen, das scheinbar nicht sie betrifft, sagt Stefania Sepp. Aussagen wie „Das ist sein oder ihr Problem – nicht meins“ sind verständlich, aber sie greifen zu kurz. „In einem Familiensystem betrifft eine Konsumstörung immer alle“, unterstreicht Maria Lintner. Veränderung kann dann vieles bedeuten: sich zurücknehmen, Dynamiken besser verstehen, den eigenen Umgang mit dem Thema reflektieren oder das Schweigen brechen.
Stefania Sepp und Maria Lintner raten Angehörigen dringend, sich Hilfe von außen zu holen. In Therapie oder Selbsthilfegruppen können sie lernen, sich von überhöhten Verantwortungsgefühlen zu befreien, ein eigenständiges Leben zu führen und dabei auf ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen und auf ihr Wohlbefinden zu achten.
Zum Tag der Familie am 15. Mai
Seit 1994 wird der Internationale Tag der Familie jährlich am 15. Mai begangen. Die UN-Generalversammlung rief ihn ins Leben, um die zentrale Rolle von Familien für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu betonen. Das diesjährige Motto lautet: „Family-oriented Policies for Sustainable Development“, mit Fokus auf Resilienz, Generationengerechtigkeit und partnerschaftlicher Unterstützung. HANDS nimmt diesen Tag zum Anlass für Reflexion und Anerkennung: Familien sind Orte der Fürsorge – aber auch Orte von Krisen. Konsumstörungen gefährden die familiäre Stabilität. Doch sie können bewältigt werden – wenn rechtzeitig Hilfe gesucht wird und Veränderung als gemeinsamer Prozess verstanden wird.
Kontakt und Information
Die Angehörigen von Menschen mit Konsumproblemen werden nicht als „Begleiterscheinung“ der Sucht gesehen, sondern als eigenständig belastete Personen, die selbst Anspruch auf Hilfe und Stabilisierung haben. HANDS bietet ihnen individuelle Beratung, therapeutische Begleitung in Familien- und Paargesprächen sowie die Möglichkeit zur Teilnahme an Selbsthilfegruppen. Informationsveranstaltungen und Workshops fördern das Verständnis für Suchtdynamiken und helfen Angehörigen, gesunde Grenzen zu setzen und Selbstfürsorge zu entwickeln. Der Verein HANDS wurde 1982 gegründet. Der Hauptsitz befindet sich in der Duca-d’Aosta-Allee 100 in Bozen.
Kontakt: Tel. +39 0471 270 924, info@hands-bz.it
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