Von: ka
Garlasco – Ein 18 Jahre alter Mordfall zieht die italienische Öffentlichkeit in seinen Bann. Seit die zuständige Staatsanwaltschaft von Pavia den Mordfall Chiara Poggi aufgrund neu auswertbarer DNA-Spuren neu aufgerollt hat, scheint es immer wahrscheinlicher, dass die Geschichte der Ermordung der damals 26-Jährigen völlig neu geschrieben werden muss.
Es verdichten sich die Hinweise, dass ihr damaliger Freund, Alberto Stasi, der nach zwei Freisprüchen im Jahr 2015 vom Kassationsgericht endgültig zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde, unschuldig im Gefängnis sitzt. Nachdem die Ermittler beschlossen haben, von einigen Personen aus dem Bekannten- und Freundeskreis des Opfers sowie von zwei Cousinen Chiaras DNA-Proben zu nehmen, müssen gleich mehrere Personen darum zittern, für Jahre hinter Gittern zu wandern. Neue Indizien und der Fund der möglichen Tatwaffe – ein Maurerhammer – lassen den Verdacht der Ermittler erhärten, auf der richtigen Spur zu sein. Auch ein Mordmotiv, das bisher völlig im Dunklen lag, zeichnet sich ab. Führte ein „Nein” zu Chiara Poggis Ermordung?
Die schreckliche Bluttat geschah am Morgen des 13. August 2007: Die 26-jährige Angestellte Chiara Poggi wurde in der Villa ihrer Familie in Garlasco bei Pavia mit einem schweren Gegenstand, vermutlich einem Hammer oder einem Schürhaken, zu Tode geschlagen. Da Chiara an diesem Morgen allein war, ihrem Mörder spontan die Tür geöffnet hatte, sie zu diesem Zeitpunkt noch ihr Pyjama trug und es keine Einbruchsspuren gab, gingen die Ermittler von Anfang an davon aus, dass das Opfer den Täter kannte.
Es war ihr damaliger Freund Alberto Stasi, der ihre Leiche gefunden und Alarm geschlagen hatte. Als die Rettungskräfte und die Carabinieri am Tatort eintrafen, entdeckten sie nicht nur, dass Chiara Poggis Leiche auf der Treppe zum Keller der Villa lag, sondern auch, dass die ganze Wohnung voller Blutspuren war. Die Tatsache, dass Alberto Stasis Schuhe vollkommen sauber waren, als hätte er sie gereinigt oder gewechselt, erregte sofort den Verdacht der Ermittler. Bei der Suche nach seiner Freundin hätte er sich beim Begehen des mit großen Blutflecken übersäten Fußbodens zumindest ein wenig schmutzig machen müssen.
Das Fehlen von Blut auf seiner Kleidung – als hätte er diese frisch gewechselt – sowie einige Ungereimtheiten in seiner Darstellung erregten den Verdacht, dass der 24-Jährige den Leichenfund nur vorgetäuscht habe und selbst für die Bluttat verantwortlich sei. Sein Alibi, er sei zur angenommenen Tatzeit vor seinem Computer gewesen, um seine Examensarbeit zu schreiben, bekam schnell erhebliche Risse. Zudem sagte ein Zeuge aus, ein Fahrrad, das jenem des 24-Jährigen ähnelte, vor der Villa der Poggis gesehen zu haben.
Die Ermittler nahmen an, dass Chiara herausgefunden hatte, dass Alberto Stasi Pornos konsumierte. Das war wohl der Auslöser für einen heftigen Streit, in dessen Verlauf der 24-Jährige seine Freundin erschlagen haben soll. Seinen Beteuerungen, das Paar habe die Pornos gemeinsam angesehen, wurde kein Glauben geschenkt.
Von Beginn an gab es jedoch Zweifel an seiner Schuld. Zwar wiesen viele Indizien in seine Richtung, es fehlte jedoch ein „schlagender Beweis”. Auch das unter Chiara Poggis Fingernägeln entdeckte biologische Material konnte zwar einem Mann zugeordnet werden, jedoch nicht eindeutig Alberto Stasi.
Aufgrund der dürftigen Beweislage sprachen die ersten beiden Gerichtsinstanzen Stasi frei. Im Jahr 2013 annullierte das römische Kassationsgericht jedoch den Freispruch des Berufungsgerichts. Im folgenden Verfahren wurde Alberto Stasi, der seine Unschuld beteuerte, wegen Mordes zu 16 Jahren Haft verurteilt. Fußspuren, die zu Stasis Schuhgröße 42 passten, und biologische Spuren des Opfers an einem Fahrrad der Familie Stasi genügten, um ihn jahrelang hinter Gitter zu bringen.
Ein neues genetisches Gutachten der Verteidiger des 24-Jährigen ergab jedoch bereits im Jahr 2016, dass die unter den Nägeln von Chiara Poggi gefundene DNA nicht Stasi, sondern einem Bekannten des Opfers, Andrea Sempio, gehört. Andrea Sempio war ein Freund des jüngeren Bruders von Chiara, Marco Poggi. Die Versuche der Anwälte, eine Neuauflage des Berufungsprozesses zu erreichen, blieben jedoch erfolglos, da die vorhandene DNA-Menge nicht ausreiche, so die Gerichte.
Im März dieses Jahres entschied die Staatsanwaltschaft von Pavia, den Mordfall Chiara Poggi aufgrund neu auswertbarer DNA-Spuren neu aufzurollen. Laut dem Gutachten der Staatsanwaltschaft können die Spuren Andrea Sempio zugeschrieben werden. Es wird jedoch offenbar nach einem zweiten Mann gesucht, von dem ebenfalls Spuren vorhanden sind. Unter Berücksichtigung mehrerer Verdachtsmomente beschloss die zuständige Untersuchungsrichterin Daniela Garlaschelli, von mehreren Personen aus Chiaras Verwandten- und Bekanntenkreis DNA-Proben zu entnehmen. Unter ihnen befinden sich zwei Cousinen des Opfers, die Zwillinge Stefania und Paola Cappa, Stasis Freund Marco Panzarasa, Roberto Freddi, Mattia Capra und Alessandro Biasibetti.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass sich hinter diesen Namen das Mordmotiv verbergen könnte. Die Personen, die ins Visier der Staatsanwälte Stefano Civardi, Valentina De Stefano und Giuliana Rizza geraten sind, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Während auf der einen Seite Marco Poggi, Sempio, Panzarasa, Biasibetti, Capra und Freddi stehen, die gemeinsam Videospiele spielten, befinden sich auf der anderen die Partygänger der Cappa-Zwillinge, mit denen Chiara nicht sehr vertraut war. Die Staatsanwälte halten sich bedeckt, aber sie glauben, dass Chiara Poggi ein striktes „Nein” mit ihrem Leben bezahlt haben könnte, weil sie sich weigerte, an einer Handlung teilzunehmen, die ihr nicht angenehm war. Um zu verhindern, dass sie etwas erzählte, das sie gesehen hatte und was ihr nicht gefiel, wurde sie für immer zum Schweigen gebracht.
Genau genommen untersuchen die Ermittler, welche Personen an einem privaten Fest teilnahmen, das im Juli wenige Wochen vor der Bluttat in einer Villa in Garlasco stattfand, und was während dieser Party geschehen sein könnte. Alberto Stasi, dem inzwischen Halbfreiheit gewährt wurde, sowie Andrea Sempio und Marco Poggi wurden vorgeladen, um den Staatsanwälten neue Fragen zu beantworten.
In den letzten Tagen wurden nicht nur Häuser und Wohnungen mehrerer Verdächtiger, sondern auch mehrere Kanäle durchsucht. In der Nähe der Villa der Cappa-Zwillinge in Tromello, einem Nachbarort von Gerlasco, wurden ein Maurerhammer und ein Schürhaken aus einem Kanal geborgen. Beide könnten als Tatwaffe infrage kommen. Zugleich werden alle vor 18 Jahren sichergestellten Spuren einer erneuten Prüfung unterzogen, wobei modernste Untersuchungsmethoden zum Einsatz kommen.
Der fast zwei Jahrzehnte zurückliegende Mordfall zieht die italienische Öffentlichkeit in seinen Bann. Die Ergebnisse der genetischen Untersuchungen werden mit Spannung erwartet. Zugleich wächst die Kritik an der Justiz. Viele Beobachter sind der Meinung, dass die damals gegen Alberto Stasi zusammengetragenen Indizien niemals ausgereicht hätten, um einen Angeklagten wegen Mordes zu verurteilen.
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