Von: APA/AFP/dpa/Reuters
Die islamistische Hamas hat am Dienstag wieder Raketen aus dem Gazastreifen auf israelische Ortschaften abgefeuert. In der Küstenstadt Tel Aviv wurde das erste Mal seit mehreren Tagen Raketenalarm ausgelöst, wie die israelische Armee mitteilte. Es gab zunächst keine Berichte zu Verletzten. Die Qassam-Brigaden, der bewaffnete Arm der islamistischen Hamas, bekannten sich zu den Angriffen.
Auch aus dem Libanon ging nach Militärangaben eine Rakete im israelischen Grenzort Metulla auf offenem Gelände nieder. Die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah reklamierte den Angriff für sich. Die israelische Armee hat eigenen Angaben zufolge danach Ziele im Libanon angegriffen. Der Ursprungsort des Abschusses sei getroffen worden, teilte das Militär am Dienstag mit.
Bei israelischen Angriffen im Gazastreifen sind nach Angaben der von der islamistischen Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mindestens 214 weitere Menschen getötet und rund 300 verletzt worden. Viele Opfer seien auch noch unter Trümmern verschüttet, sagte der Sprecher der Behörde, Ashraf al-Kudra, am Dienstag weiter.
Bei einem Luftangriff in der heftig umkämpften Flüchtlingssiedlung Jabalia im Norden des Küstenstreifens habe es mindestens 13 Tote gegeben. Weitere 75 Menschen seien dort verletzt worden. Die Angaben konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden. Damit sei die Zahl der Opfer im Gazastreifen seit Beginn der israelischen Gegenangriffe auf 19.667 Tote und 52.586 Verletzte gestiegen.
Die noch funktionierenden Krankenhäuser im Gazastreifen seien völlig überfordert mit der Anzahl an Verletzten, sagte al-Kudra. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeiten nur noch acht von einst 36 Krankenhäusern einigermaßen. Das Personal könne sich selbst in den Intensivstationen kaum bewegen, weil überall auf dem Boden Patienten lägen.
Zehntausende Palästinenser haben in den vergangenen Wochen vom Norden des Gazastreifens aus auf Geheiß Israels im vermeintlich sicheren Süden Schutz gesucht. Sie seien nun den israelischen Angriffen ausgesetzt, sagte der WHO-Vertreter für den Gazastreifen, Richard Peeperkorn.
Zwischen 95.000 und 120.000 Gebäude wurden beschädigt oder zerstört. Das geht aus einer laufenden Analyse der Decentralized Damage Mapping Group (DDMG) hervor, bei der eine Gruppe von US-Wissenschaftlern die Angriffe in dem Küstengebiet mit Satellitendaten untersucht.
Im nördlichen Gazastreifen wurden demnach bisher 60 bis 72 Prozent aller Gebäude beschädigt oder zerstört. Für die Analysen nutzt die DDMG offen zugängliche Daten von Satelliten- und Radartechnik. Das UNO-Palästinenserhilfswerk UNRWA teilte mit, 60 Prozent der Infrastruktur im Gazastreifen sei beschädigt oder zerstört worden. Zudem seien mehr als 90 Prozent der Bevölkerung vertrieben worden.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat mehrfach das Ziel ausgegeben, die Hamas zu vernichten. Mit dem Feldzug im Gazastreifen reagiert seine Regierung auf das Massaker von Hamas-Kämpfern am 7. Oktober, bei dem rund 1.200 Menschen – zumeist Zivilisten – getötet und etwa 240 weitere als Geiseln verschleppt worden waren.
International wächst angesichts des Leids der Zivilbevölkerung aber die Kritik am Vorgehen der Streitkräfte. “Wir fordern eine sofortige, anhaltende Waffenruhe, um zu einem Waffenstillstand zu kommen”, sagte Frankreichs Außenministerin Catherine Colonna nach einem Treffen mit ihrem britischen Amtskollegen David Cameron am Dienstag in Paris. Sie sprach sich auch dafür aus, die EU-Sanktionen gegen die Hamas und die “Finanzierung des Terrorismus” zu verschärfen.
Der Gaza-Krieg ist nach den Worten der Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ein “moralisches Scheitern”. Beide Seiten seien aufgefordert, wieder in Verhandlungen einzutreten, sagt Mirjana Spoljaric vor Journalisten in Genf. Das Leiden der Menschen werde sich noch auf Generationen nicht nur im Gazastreifen auswirken.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bemüht sich rund um die Uhr um die Freilassung weiterer von Terroristen aus Israel in den Gazastreifen verschleppter Geiseln. Sie stehe in ständigem Kontakt mit der Regierung Israels und der im Gazastreifen herrschenden Palästinenserorganisation Hamas, sagte Spoljaric am Dienstag in Genf. Geiselnahmen verstießen gegen das humanitäre Völkerrecht, das das IKRK aufrechterhalten soll. Sie verlangte die bedingungslose Freilassung. Sie stellte klar: “Wir verhandeln nicht. Wir sind nicht an politischen Diskussionen beteiligt.”
Einer Freilassung müsse eine Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien vorausgehen. Das IKRK stehe bereit, um wie bei den bereits freigelassenen 109 Geiseln die Übergabe zu organisieren. Das seien komplexe und lebensgefährliche Einsätze. Sie verwahrte sich gegen Berichte, in denen der IKRK-Einsatz herablassend als “Taxi-Dienst” für die Geiseln bezeichnet wurde. Spoljaric kehrte gerade von einer Reise unter anderem nach Gaza, Tel Aviv und Doha an den Sitz des IKRK in Genf zurück. In Doha sprach sie mit der Hamas-Spitze. Diese Gespräche seien stets konkret und detailliert, sagte sie. Das IKRK sei strikt neutral, Gespräche stets vertraulich, deshalb wollte sie zu dem Inhalt keine Angaben machen.
Israels Präsident Yitzhak Herzog hat Bereitschaft seines Landes erkennen lassen, sich auf eine weitere Feuerpause im Gazastreifen einzulassen, um die von der radikal-islamischen Hamas festgehaltenen Geiseln freizubekommen und mehr Hilfe in die belagerte palästinensische Enklave zu bringen. “Israel ist zu einer weiteren humanitären Pause und zu zusätzlicher humanitärer Hilfe bereit, um die Freilassung der Geiseln zu ermöglichen”, sagt Herzog nach Angaben seines Büros bei einer Versammlung von Botschaftern. “Und die Verantwortung liegt vollständig bei (Hamas-Chef Jahja) Sinwar und (anderen) Hamas-Führern.” Der Präsident spielt in Israel eine weitgehend zeremonielle Rolle.
Die Hamas lehnt Verhandlungen über einen weiteren Geisel- und Gefangenenaustausch während des Krieges mit Israel ab. Man sei jedoch offen für jede Initiative, den Krieg zu beenden, sagt Hamas-Vertreter Basem Naem. “Wir bekräftigen unsere Position und lehnen es kategorisch ab, Verhandlungen über den Gefangenenaustausch angesichts des andauernden israelischen Völkermordkrieges zu führen”, sagt Naem.