Von: Ivd
Bozen – Bin ich eine gute Partnerin? Eine gute Mutter? Wie schön muss ich sein? Wie wütend darf ich nicht sein? Frauen bewegen sich alltäglich zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und ihrem eigenen Empfinden. Wenn diese Bilder nicht zusammenpassen, entsteht „Rollenerwartungsstress“.
Das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen hat in einer Studie untersucht, in welchen Lebensbereichen der Rollenerwartungsstress für Südtirolerinnen besonders hoch ist. In einer Folgestudie wird in den kommenden Monaten erhoben, wie sich dieser Stress auf die mentale Gesundheit auswirkt.
Hintergrund und Methodik der Studie Die Wissenschaftlerinnen Dr. Barbara Plagg und Dott.ssa Heidi Flarer (Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen) haben in Zusammenarbeit mit Prof. Reinhard Tschiesner (Freie Universität Bozen) und Prof. Sabine Ludwig (Medizinische Universität Innsbruck) untersucht, wo Rollenerwartungsstress für Frauen in Südtirol besonders belastend wird. Grundlage hierfür war ein frei zugänglicher Online-Fragebogen, den 2.359 Frauen im Alter von 16 bis über 70 Jahren aus unterschiedlichen Bildungs- und Berufsgruppen zwischen 10. August und 10. September 2025 beantwortet haben.
Die Ergebnisse zeichnen das Bild einer Generation von Frauen, die viel trägt und viel kann, aber dafür auch einen hohen Preis in Form von innerem Druck, Schuldgefühlen und permanentem Balancieren zwischen Erwartungen und eigenen Bedürfnissen zahlt.
Fürsorge- und Harmoniepflicht
Am stärksten belastet die befragten Frauen die Erwartung, für Fürsorge, Rücksicht und das Zusammenhalten von Familie, Beziehungen und oft auch Arbeitssituationen zuständig zu sein. Rund zwei Drittel der befragten Frauen fühlen sich verantwortlich, Konflikte in Familie und Freundeskreis zu lösen. Drei Viertel versuchen fast immer, Trost zu spenden.
Mehr als jede zweite Frau berichtet von Schuldgefühlen beim „Nein“-Sagen, knapp die Hälfte hat Schwierigkeiten, Zeit nur für sich einzuplanen – bei Müttern liegt dieser Anteil deutlich höher. 57 Prozent der Mütter finden kaum oder nur schwer Raum für eigene Erholungszeit.
Kind und Karriere
Zweitgrößter Stressfaktor ist der Konflikt zwischen Beruf, familiären Aufgaben und eigenen Leistungsansprüchen. Viele teilnehmende Frauen erleben den Alltag zwischen Kindern und Beruf als deutliche Zusatzbelastung. 70 Prozent fühlen sich hauptsächlich für Kinderbetreuung, Pflege und die emotionale Arbeit in Beziehungen verantwortlich.
Ganze zwei Drittel empfinden es als anstrengend, Haushalt und Betreuung parallel zur Berufsausübung zu organisieren. Über ein Drittel sorgt sich regelmäßig, dass berufliche Verpflichtungen zulasten der Familie gehen. Stark ausgeprägt sind diese Belastungen bei Müttern zwischen Anfang 30 und Mitte 40.
Die Angst, als „Rabenmutter“ zu gelten, wenn man beruflich ehrgeizig ist, ist noch weit verbreitet: 30 Prozent der Studienteilnehmerinnen fürchten dieses Stigma. Ein anderes Rollenbild scheint sich dagegen bereits deutlich zu verschieben: Nur etwa fünf Prozent der Frauen empfinden es als unangenehm, mehr zu verdienen als der Partner.
Emotions- und Durchsetzungsnormen
„Gut jede dritte Frau in unserer Stichprobe sagt, dass es ihr schwerfällt, Wut oder Empörung offen zu zeigen, ein weiteres Viertel ist ambivalent. Etwa ein Drittel tut sich außerdem schwer damit, klare Grenzen zu setzen – selbst mit zunehmender Lebenserfahrung gelingt dies nur vier von zehn Frauen“, sagt Studienleiterin Dr. Barbara Plagg.
Sehr deutlich zeigt sich auch eine andere Erwartung: Mehr als die Hälfte der befragten Frauen haben Angst, als „kalt“ oder gefühllos zu wirken, gleichzeitig fühlt sich fast die Hälfte der Frauen auch unwohl dabei, vor anderen zu weinen – egal welchen Alters.
Viele Frauen stehen zwischen zwei Erwartungen – empathisch und verständnisvoll sein, aber eigene negative Gefühle nicht zu deutlich zeigen.
Körper- und Schönheitsdruck
Aussehen bleibt ein deutlicher Stressfaktor. Gut jede zweite befragte Frau spürt den Druck, jung und „makellos“ erscheinen zu müssen, ein Drittel geht grundsätzlich ungern ungeschminkt aus dem Haus. Der stärkste Unterschied zeigt sich beim Alter: „Mit zunehmendem Alter nimmt der Schönheitsdruck ab: Frauen über 50 berichten mehr Gelassenheit, während jüngere Frauen stärkeren Druck durch Vergleiche mit anderen erleben.
Ob eine Frau Single ist, studiert hat, in Partnerschaft lebt oder Kinder hat, verändert den Attraktivitätsdruck weniger stark, als ob sie 25 oder 55 Jahre alt ist“, erläutert Dr. Plagg.
Liebe, Sex und Zärtlichkeit
„Knapp jede vierte Südtirolerin gibt in unserer Stichprobe an, ab und zu einen Orgasmus oder sexuelle Lust vorzutäuschen. Weitere rund 16 Prozent sind ,unentschieden‘ – insgesamt sind es also etwa 40 Prozent, die hier nicht eindeutig auf der Seite ‚ich täusche nie vor‘ stehen“, führt Dr. Barbara Plagg aus. „Rund 26 Prozent haben das Gefühl, für den Partner sexuell verfügbar sein zu müssen, damit die Nähe bestehen bleibt, etwa 20 Prozent befürchten, weniger Zuwendung zu bekommen, wenn sie keine Lust zeigen“, so Dr. Plagg.
Mütter berichten etwas häufiger ein Gefühl von Verfügbarkeitspflicht als Frauen ohne Kinder. Zugleich sagen drei Viertel der Frauen, dass sie für Sexualität eine emotionale Nähe brauchen – ein Muster, das sich in fast allen Alters- und Bildungsgruppen zeigt.
Frauen sind für Frauen da
Die meisten Frauen in der Befragung erleben Beziehungen zu anderen Frauen als unterstützend. Fast zwei Drittel können einer Freundin leicht persönliche Probleme anvertrauen – gleichzeitig fällt es dann aber doch rund einem Viertel schwer, aktiv um Hilfe zu bitten. Knapp jede vierte Frau berichtet zudem von Konkurrenzgefühlen gegenüber erfolgreicheren Frauen – v. a. jüngere sind hierfür anfälliger.
Körperliche Nähe (z.B. Umarmungen) wird überwiegend positiv erlebt. „Im Vergleich zu den anderen Konfliktzonen ist ,Nähe, Vertrauen und Rivalität unter Frauen‘ dennoch die am wenigsten belastete Dimension. Frauenfreundschaften erscheinen in unserer Stichprobe klarer als Ressource denn als Stressquelle“, betont Dr. Barbara Plagg.
Mit dieser Erhebung wurde ein neues Instrument zur Messung von Rollenerwartungsstress entwickelt, das in den kommenden Monaten im Rahmen einer großen, repräsentativen Umfrage zu Rollenstress und seinem Einfluss auf die mentale Gesundheit in Südtirol eingesetzt wird.




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