Mit einem Schlag war alles anders

Nach dem Tod seines Bruders hat ihn die Musik gerettet

Mittwoch, 24. Mai 2023 | 08:17 Uhr

Rodeneck – Der Moment, als er seinen Bruder Norbert bei einem Traktorunfall verloren hat, bleibt in seinem Herzen eingebrannt. Der tragische Verlust ließ seine Welt zusammenbrechen. Aber auch wenn der Schmerz seine Spuren hinterlassen hat, schaut Roman Harrasser vom Leitlerhof aus Rodeneck heute nach vorne. Geholfen hat ihm dabei die Musik. Nun möchte er andere an seiner Erfahrung teilhaben lassen.

Der tödliche Unfall, bei dem sein Bruder ums Leben kam, hat sich am 31. Juli 2010 ereignet. „Es war am Samstagabend, er war beim Heimfahren mit Brennholz“, erinnert sich der 27-Jährige. Damals war er erst 14 Jahre alt. Der Anhänger des Transporters hat sich auf der steilen Wiese überschlagen, sein Bruder Norbert geriet unter die Holzmassen und wurde 30 Meter darunter mitgezogen.

„Wir sind sofort zu ihm, direkt über unserem zweiten Hof, dem Oberhauserhof. Im gleichen Moment traf der Notarzthubschrauber ein. Der Notarzt, das Weiße Kreuz und die Feuerwehr waren schon dort“, erzählt Roman Harrasser. Außerdem wimmelte es von Gleitschirmfliegern, die erste Hilfe leisteten – die Unfallstelle befindet sich direkt neben deren Startplatz – und ein paar Schaulustigen.

Nachdem man seinen Bruder aus den Trümmern des Fahrzeugs befreit hatte, erklärte dieser, dass er auf einem Auge nichts sehe und dass er Schmerzen im Brustbereich verspüre. Doch ansonsten gehe es ihm gut. Das waren die letzten Worte, die Roman Harrasser von seinem Bruder „Nori“ gehört hat.

privat – Roman Harrasser und sein Bruder als Kinder

Anschließend wurde er mit dem Hubschrauber ins Bozner Krankenhaus geflogen. „Mein anderer Bruder Bernhard, mein Onkel und ich haben zu Hause gewartet. Gegen Mitternacht haben unsere Eltern angerufen und gesagt, dass zwei Ärzte bei ihnen gewesen seien“, erklärt Roman Harrasser gegenüber Südtirol News.

Die Ärzte sagten, alles sei gut verlaufen. Sein Bruder habe zwar viel Blut verloren, doch er sei über den Berg. Die Ärzte hätten die Eltern aufgefordert, noch etwas zu warten. Dann sei es ihnen erlaubt, ihren Sohn zu sehen.

Doch in Wirklichkeit verlief alles anders. „Zwei Stunden später kamen die Ärzte wieder und sagten, mein Bruder sei verstorben“, erinnert sich Roman Harrasser. Trotz Notoperation ist Norbert im Alter von 25 Jahren seinen schweren Verletzungen erlegen.

„Keine Stopptaste“

Von diesem Moment an änderte sich das Leben der Familie schlagartig. „Besonders ich habe mehrere Jahre gebraucht, um mit alldem halbwegs klarzukommen“, erzählt der 27-Jährige. Er musste mich mit etwas auseinandersetzen, womit sich kein 14-jähriger Junge auseinandersetzen müssen sollte. Reden konnte er mit niemandem. „Immer wenn ich etwas über den Tod gehört habe, hat mich ein Gefühl von Ungewissheit und Scham überwältigt. Ich habe auch brutal viel geweint“, sagt Roman Harrasser.

Alles fühlte sich für ihn plötzlich so surreal und leer an: „Ich wusste nicht, wie umgehen mit dem plötzlichen Tod meines Bruder und mit dieser Leere und Stille, die er hinterlassen hat – sowohl im Haus als auch in unseren Herzen und einfach überall. Doch das Leben ging weiter und nach einem Tag folgte der nächste. Es gab keine Stopp-Taste, auch wenn ich sie noch so sehr gebraucht hätte.“

Die übrigen Familienmitglieder hat der Verlust ebenfalls stark mitgenommen. „Der Vater wollte beide Höfe verkaufen, um irgendwo anders hinzuziehen, und er hat wieder starke Depressionen bekommen“, berichtet der 27-Jährige.

Die Musik als Rettungsanker

Sein Weg, um aus der Trauer wieder raus zu kommen, waren die täglichen Spaziergänge zu jenem Ort, an dem der Unfall passiert war. „Eimer voller Tränenwasser sowie die ganze Umgebung und das Dasein auf unserem Hof haben mir so viel gegeben, um Stück für Stück wieder Lichtblicke in meinem Herzen zu schaffen.“

Tief in seinem Inneren wusste er, dass das Leben irgendwie weitergeht und er seinen Weg zum Glücklichsein wieder finden muss – nicht nur für sich, sondern auch für seine Familie und vor allem für seinen verstorbenen Bruder: „Nori hätte immer gewollt, dass wir glücklich sind und all die Dinge machen, für die er keine Zeit mehr hatte, und das mit Freude und Zuversicht. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke. Kein Tag an dem ich nicht von ihm erzähle, doch mittlerweile nicht mehr nur mit Tränen in den Augen, sondern einem Lächeln im Gesicht.“

Was noch geholfen hat, war die Musik. „Ich hörte Lieder, die mich in meine eigene Welt mit ihm versetzten und die in mir wieder Gefühle zum Kämpfen auslösten“, erklärt Roman Harrasser. Die Palette reichte von Pop- und Rockmusik über das Stück „Mein Bruder“ von den Alpenfrieden Buam bis hin zu Zucchero, dessen Lieder „Nori“ so gut gefielen.

Ein Traum

Von daher rührt auch sein Traum: Er möchte eine Musik-CD mit selbstgeschriebenen Songs fertigstellen, die von seinem Bruder und dessen Lebenseinstellungen erzählen und zugleich Menschen eine Stütze bieten, die sich mit einem ähnlichen Schicksalsschlag auseinandersetzten müssen.

privat

„Weil mir Musik damals extrem viel geholfen hat, das alles zu überstehen, möchte ich auch selber ganz vielen Leuten helfen und zeigen, dass es immer wieder aufwärts geht, dass es immer einen Grund zu lächeln gibt und dass man nie einfach nie aufgeben darf. Dass alles seinen Sinn hat, dass es immer wieder Menschen gibt die einen weiter helfen und dass man mit der Zeit einfach alles übersteht“, erklärt Roman Harrasser.

Deshalb lanciert er einen Appell, um Interessierte zu finden, die gemeinsam mit ihm proben, Lieder covern, die schöne Orte für ein Musikvideo kennen oder die einfach Musik machen möchten. Texte für eigene Songs stehen bereits. Damit auch andere Halt in Zeiten der Trauer finden – und den Mut, nach einem schweren Schicksalsschlag weiter zu kämpfen.

Wer Roman Harrasser unterstützen möchte, erreicht ihn unter harrasser.roman@gmail.com.

Von: mk

Bezirk: Eisacktal