Von: mk
Bozen – Seit 2017 gibt es das „Netzwerk psychischer Gesundheit Südtirol“, an dem sich die Leiter aller öffentlichen Dienste, die Menschen mit psychischen Krankheiten behandeln, beteiligen. Anlässlich des Welttages der psychischen Gesundheit weist Roger Pycha, Primar des Psychiatrischen Dienstes Brixen und Koordinator des Netzwerks, darauf hin, wie wichtig das seelische Wohlbefinden für Jung und Alt ist.
„In die Schlagzeilen gelangt unsere psychische Befindlichkeit meistens erst, wenn Neugeborene zu Tode kommen, verhinderbare Suizide stattfinden oder Mobbingopfer zu sprechen beginnen. Dabei ist das Seelenleben genauso wichtig wie die körperliche Funktion, wir leben psychisch von Beziehungen, Kontakten, sinnvoll erlebten Tätigkeiten und Projekten. Das ist wie Luft zum Atmen, wie Traubenzucker und Sauerstoff“, weist Pycha auf die Wichtigkeit des psychischen Wohlbefindens hin.
Europäische und amerikanische Studien, so der Koordinator des Netzwerkes, würden belegen, dass ein Drittel aller Menschen im Lauf ihres Lebens die Erfahrung einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung machen würden – und die „glücklichen Südtiroler“ seien da keine Ausnahme. Der bekannten Forscher Hans-Ulrich Wittchen hat 1997 in einer deutschen städtischen Gegend im Laufe eines Jahres 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mit Angststörungen, 14 Prozent mit Depressionen und elf Prozent mit psychosomatischen Störungen vorgefunden. 2012 wurden in ganz Europa praktisch identische Ergebnisse erzielt. Für den Netzwerk-Koordinator und Primar Roger Pycha kein Wunder: „Bei Depressionen muss man davon ausgehen, dass in jedem Augenblick in Westeuropa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung daran leiden, das entspricht 25.000 Menschen in Südtirol.“
Fachleute sagen, die psychiatrische Versorgung könne als ausreichend gesehen werden, wenn zwei bis drei Prozent der Bevölkerung in Behandlung seien. Laut der Beobachtungsstelle für Gesundheit wurden 2018 genau 10.249 Südtiroler an den Zentren Psychischer Gesundheit psychiatrisch behandelt, das entspricht 2,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Im Jahr 2008 waren im Vergleich nur 1,7 Prozent der damaligen erwachsenen Einwohner Südtirols in psychiatrischer Behandlung. 2018 sind 2958 psychiatrische Krankenhausaufnahmen erfolgt, wobei in 26 Prozent der Fälle die häufigste Diagnose „Depression oder andere affektive Störung“ gestellt wurde. Für die Tätigkeiten der Psychologischen Dienste liegen Zahlen von 2017 vor, als 8.877 Patienten landesweit behandelt wurden. 1360 Personen waren 2018 bei den Diensten für Abhängigkeitserkrankungen in Behandlung, und das Therapiezentrum Bad Bachgart tätigte im selben Jahr 383 Aufnahmen.
2018 sank die Zahl der Suizide in Südtirol auf den niedrigsten Wert von 36 Opfern – ein Ansporn zum Fortsetzen der intensiven und gezielten Hilfe, die man bei psychischen Krankheiten und Krisen im Lande erfahren kann.
Es gibt aber durchaus noch Einiges zu tun, so Pycha: Vorurteile abzubauen, Behandlungen besser zu erklären, Experten zu schulen und Betroffene sowie die Bevölkerung gezielter zu erreichen: „Die WHO schätzt, dass die Depression 2020 die zweitwichtigste, 2030 die wichtigste Krankheit weltweit sein wird. Der Bedarf nach psychiatrischer, psychologischer und psychotherapeutischer Betreuung und Behandlung wächst laufend – nicht zuletzt deshalb, weil zum Glück Betroffene und ihre Angehörigen mutig immer öfter selbst Hilfen suchen. Vier verschiedene Psychotherapieschulen sind in den letzten 25 Jahren in Südtirol gegründet worden – und belegen das große Interesse der Experten, immer besser zu arbeiten. Notfallseelsorge und Notfallpsychologie leisten inzwischen unentbehrliche Dienste, auch die landesweite Kinderpsychiatrie. Und das allerschwierigste Kapitel der älteren Mitbürger und ihrer erhöhten Anfälligkeit für Depression und Demenz darf darob weder vergessen noch verleugnet werden.“
Mutige Experten haben 2017 das „Netzwerk psychischer Gesundheit Südtirol“ gegründet, an dem sich die Leiter aller öffentlichen Dienste, die Menschen mit psychischen Krankheiten behandeln, beteiligen. Dieses Gremium von Fachpersonen berät die Politik und die Führungsspitze des Gesundheitswesens, und arbeitet nach der Maxime „Kurze Wege für rasche Heilung“.
Mutige Menschen, Betroffene und einige wenige Helfer, haben vor 22 Jahren in Bruneck die Selbsthilfevereinigung psychisch kranker Menschen „Lichtung“ gegründet. Sie ist Jahr für Jahr gewachsen, überzieht mit ihren Selbsthilfegruppen und Initiativen für die psychische Gesundheit das ganze Land, zählt inzwischen 400 Mitglieder und ist zum politischen und sozialen Sprachrohr der psychisch Kranken geworden.