Seelische Erste Hilfe

Wenn die Seele leidet: Auf Hilferufe achten

Freitag, 02. April 2021 | 11:56 Uhr

Bozen – Die Frühlingsmonate und vor allem die kirchlichen Feiertage des Leidens, des Sterbens und der Erlösung Jesu Christi sind – gerade in Zeiten wie diesen – besonders anfällige Zeiten für persönliche Krisen. Daher rufen Roger Pycha und Sabine Cagol von der Europäischen Allianz gegen Depression in Südtirol und vom Hilfsnetzwerk PSYHELP Covid-19 alle auf, aufmerksam auf Mitmenschen zu achten und mutig eine seelische Erste Hilfe zu leisten.

 

Wenn jemand schwer verunglückt, kann sein Leben in Gefahr sein. Dann versuchen wir zu helfen, indem wir die Atemwege des Betroffenen freihalten und den Kreislauf unterstützen – er soll überleben, bis die Retter vom Dienst da sind. Wir nennen das „Erste Hilfe“.

Es gibt auch massives seelischer Unglück – so intensives, dass jemand glaubt, nicht mehr weiter machen zu können. Dass er glaubt, er muss den Tod suchen. Wenn wir in solchen Situationen helfen, betreiben wir Seelische Erste Hilfe. Wie geht das?

Ich habe viel mit Überlebenden von Suizidversuchen gesprochen. Sie wollten in aller Regel (es gibt ein paar seltene Ausnahmen) allein sein beim Durchführen ihrer Tat. Deshalb die erste Grundregel zur Rettung eines anderen Lebens: Bleiben Sie da, gehen Sie nicht weg. Und wenn Sie schon da sind, treten Sie mit dem oder der Betroffenen in Kontakt. Psychisch gesehen halten zweierlei Maßnahmen praktisch immer am Leben: In Beziehung zu stehen mit wichtigen, lieben Menschen, also sozial vernetzt zu sein. Und Vorhaben, Pläne und Entwürfe zu haben, die man realisieren will, also vernetzt zu sein mit der Zukunft. Beides kann man auch mit Verzweifelten versuchen.

Wie kann ich einem oder einer schwer Erschütterten gegenübertreten? Sie dürsten vielleicht nach Beziehung, und fühlen sich verlassen. Da bedeutet Kontakt: Blick in ihre Augen, Lächeln, vielleicht auch ganz sanfte, neutrale Berührung, an der Hand oder Schulter zum Beispiel. Der Hinterkopf geht auch. Der Rücken, zwischen den Schulterblättern, wo man selbst mit der Hand nicht hinkommt, ist besonders berührungssensibel. Das ist die Stelle für den Fall, dass er oder sie auf andere Berührungen nicht reagiert. Das ist der Ort, an dem das Gehirn des Betroffenen blitzartig weiß: Es ist jemand anderer, der mich jetzt berührt. Sofort danach sollte ich zu ihm oder ihr sprechen. Radikal von dem ausgehen, was ich selbst fühle. Das ist der beste und ehrlichste Weg. „Sie kommen mir extrem bedrückt vor, und ich mache mir Sorgen um Sie. Ist Ihr Leben in Gefahr?“ ist da eine der kürzesten Formeln, um etwas mehr Gewissheit zu erlangen. Lassen Sie bitte nicht locker. Wenn keine Antwort kommt, schildern Sie wieder Ihre eigene Lage: „Jetzt weiß ich gar nichts, und bin noch alarmierter. Bitte sagen Sie mir genau, was mit Ihnen los ist.“

Eine Antwort ist nicht immer verbal. Auch Zusammenkauern, Zittern, Weinen, Fäuste Ballen, sich Wegwenden können stumme Antworten des Körpers sein. Sie sind nicht ganz eindeutig, aber ich kann sie interpretieren. Sie fordern mich dazu auf, zu deuten, was geschieht: „Was bedeuten Ihre Tränen? Hat man Sie schwer verletzt?“

Wenn die Antwort bestätigend ausfällt, wenn seelische schwere Wunden und Lebensgefahr bejaht werden, kann mir die Situation zu viel werden. Die wichtigste Regel ist jetzt: diese Verantwortung für das Überleben eines Anderen mit weiteren Menschen zu teilen. Im dringlichsten Fall rufe ich 112, Rettung oder Polizei, die schnellen Helfer vom Dienst. Bei Jugendlichen kontaktiere ich die Eltern oder Lehrer, bei Erwachsenen die Partner, Familie, Freunde. Der Hilferuf darf nicht verhallen, ohne gehört zu werden. Und dann bleibe ich bis zum Eintreffen der Gerufenen, oder begleite den Betroffenen zu ihnen.

Zusätzlich kann ich Vieles tun, je nachdem, wieviel Zeit und Energie ich zur Verfügung habe und ob ich bereits einen seelischen Erste Hilfe Kurs besucht habe. Dort lerne ich meine eigene Einstellung zum Suizid kennen, ich lerne Methoden der Suizidvorbeugung und der Krisenintervention. Wenn ich einiges davon erinnere, kann ich versuchen festzustellen, in welcher suizidalen Phase mein Gegenüber ist: Erwägt er der Suizid unter verschiedenen anderen Lösungsmöglichkeiten (ist weitgehend ungefährlich), schwankt er zwischen leben oder sterben Sollen (gefährlicher, es gibt nur mehr 2 Alternativen, Betroffene liefern sich oft einem „Gottesurteil“ aus), hat er den Beschluss zu sterben gefasst, aber noch keinen Plan wie er das bewerkstelligen soll (starke Spannung: sucht den Tod, hat aber -glücklicherweise – Angst vor dem Sterben), oder hat er bereits einen konkreten Plan (hoch gefährlich, nicht mehr alleine lassen) und sogar Vorbereitungen getroffen (die Helfer sollen dann rasch eintreffen)?

Ich kann aber alles das den herbeigerufenen Helfern und den Psychiatern überlassen, die den Betroffenen notfallmäßig sehen sollen und pausenlos an den Ersten Hilfen von Bozen, Meran, Brixen und Bruneck in Bereitschaft sind.

Ich weiß, ich habe das Allernötigste getan. Ich habe einen Verzweifelten erkannt, begleitet und die Rettungskette aktiviert. Und ich habe im Umkehrschluss gelernt, was ich selber in einer schweren Krise tun soll. Ich soll mein Leid zeigen und hinausschreien, damit es leichter wahrgenommen wird.  Das ist das Einmaleins der seelischen Ersten Hilfe.

 

Roger Pycha und Sabine Cagol,

Europäische Allianz gegen Depression in Südtirol und Hilfsnetzwerk PSYHELP Covid 19

Von: luk

Bezirk: Bozen