Von: mk
Bozen – Wie steht es um die körperlich und psychisch belastenden Arbeitsbedingungen in den einzelnen Wirtschaftszweigen? Diese AFI-Studie nimmt die Südtiroler Branchen in den Blick – aber nicht nur. Alle Südtiroler Ergebnisse werden mit den Ergebnissen derselben Branche im Bundesland Tirol und im Trentino vergleichen: Also Äpfel mit Äpfeln und Birnen mit Birnen. „Grundsätzlich überwiegen in den meisten Branchen die Gemeinsamkeiten mit unseren im Norden und Süden angrenzenden Regionen. Im Verarbeitenden Gewerbe, dem Handel und der öffentlichen Verwaltung sind die körperlichen und psychischen Arbeitsbelastungen sogar weniger stark ausgeprägt als in den entsprechenden Branchen unserer Nachbarn“, betont AFI-Präsident Andreas Dorigoni. Aber es gibt auch zwei Sorgenbranchen und ein Stirnrunzeln: bei Unterricht und Erziehung, Gesundheits- und Sozialwesen sowie in der Hotellerie und Gastronomie.
Die Daten stammen aus der 2021 vom AFI | Arbeitsförderungsinstitut mit den Partnerinstituten für die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino durchgeführten Europäischen Erhebung zu den Arbeitsbedingungen (EWCS), einer umfassenden Befragung mit 4.500 Interviews (1.500 pro Landesteil der Europaregion). Wie Projektkoordinator und Arbeitspsychologe Tobias Hölbling unterstreicht, „ermöglicht die Selbsteinschätzung der Befragten in Bezug auf ihre Arbeitssituation interregionale Vergleiche auf sicherer methodischer Grundlage. Und wenn der Nachbar in punkto Arbeitsbedingungen bessere Ergebnisse erzielt, dann können wir uns vielleicht etwas abschauen.“
Drei Strahlebranchen
Das Verarbeitende Gewerbe steht sowohl bei körperlich als auch bei psychisch belastenden Arbeitsbedingungen in Südtirol besser da als der Europaregionsdurchschnitt: Keine einzige der 14 Messgrößen wie Lärm, schmerzhafte Körperhaltungen oder hohe Arbeitsgeschwindigkeit ist schlechter ausgeprägt als in den beiden anderen Landesteilen, neun sogar besser als der Durchschnitt, darunter weniger hohes Arbeitstempo und weniger Arbeiten unter Termindruck. Ebenso im Handel: Nur eine Messgröße von 14 ist schlechter (ständig sich wiederholende Arm- und Handbewegungen), fünf sind besser ausgeprägt (bspw. weniger emotional aufwühlende Situationen bei der Arbeit). Last but not least die öffentliche Verwaltung, die auch die Ordnungskräfte und Beschäftigte der Sozialversicherung einschließt: Im Europaregionsvergleich gibt es hierzulande weniger häufig emotional aufwühlende Situationen bei der Arbeit und weniger häufig die Erwartung, dass die Arbeitssituation sich verschlechtern wird.
Zwei Sorgenbranchen, ein Stirnrunzeln
Für die Branche Erziehung und Unterricht gilt: Ob starker Lärm, Umgang mit potenziell ansteckenden Stoffen, Arbeit auch in der Freizeit, hohes Arbeitstempo, emotional aufwühlende Situationen oder die Erwartung, dass sich die Arbeitssituation verschlechtert – zwei körperlich und drei psychisch belastende Messgrößen schlagen in Südtirol deutlich höher aus als in den Kindergärten, Schulen und Hochschulen im Bundesland Tirol und im Trentino.
Auch wenn es im Gesundheits- und Sozialwesen insgesamt in allen drei Landesteilen statistisch gesehen gleich anstrengend ist zu arbeiten, ist diese Branche in Südtirol im regionalen Vergleich in den einzelnen Arbeitsbedingungsbereichen höchstens Durchschnitt (neunmal) und oft auch deutlich mehr belastet (fünfmal). Wer in dieser Branche in Südtirol beschäftigt ist, klagt zum Beispiel über hohes Arbeitstempo, macht sich auch in seiner Freizeit deutlich häufiger Sorgen um die Arbeit und hat deutlich öfter Angst vor Arbeitsplatzverlust, um nur die drei drängendsten psychischen Belastungen zu nennen. „Die Unsicherheit mancher Mitarbeiter im Gesundheits- und Sozialwesen, ob sie ihren Arbeitsplatz auch noch in sechs Monaten haben werden, ist möglicherweise auf die Coronalage bei der Befragung im Sommer 2021 zurückzuführen“, präzisiert Hölbling.
Hotellerie und Gastronomie sind in der gesamten Europaregion für die Beschäftigten herausfordernd, wobei das Bundesland Tirol hier negativ heraussticht. Südtirol positioniert sich in der Mitte, allerdings sind hierzulande drei Messgrößen (Sich Sorgen machen um die Arbeit auch in der Freizeit, Arbeitsplatzunsicherheit und Umgang mit potenziell ansteckenden Stoffen) stärker ausgeprägt als in den anderen Landesteilen.
Ergebnisse als Chance für bessere Arbeitsgestaltung
Bessere Ergebnisse anderswo müssen Ursachen haben, die man sich doch vielleicht abschauen und auf die Südtiroler Verhältnisse zuschneiden kann. „Das müssen gar nicht unbedingt wieder neue Gesetze und Verordnungen sein, es geht hier mehr um gute Beispiele aus der Praxis: Was macht mein Nachbar anders und besser? Arbeitsgestaltung ist das Zauberwort“, betont Arbeitspsychologe Hölbling.
Die Arbeitspsychologie verfügt dafür über ein breites Repertoire an fest gegründeten, wissenschaftlich anerkannten Verfahren und Methoden – der Qualitäts- und Gesundheitszirkel ist einer davon. Bei jeder Arbeitsgestaltung bezieht man am besten die wahren Experten mit ein, jene, die ihre Arbeit aus dem Effeff kennen, die wissen, was am Arbeitsplatz gut läuft und was schlecht: die Mitarbeiter.