Von: ka
Val di Susa – In den Bergen des Val di Susa sorgt ein „weißer Steinbock“ für Furore. Die ersten Augenzeugen glaubten, dass es sich beim „weißen Steinbock“ um einen seltenen Fall von Albinismus handle, aber Experten meinen nun, dass das Tier eine ebenso seltene Kreuzung zwischen einem Steinbock und einer Ziege sei. Endgültige Sicherheit – so die Naturforscher – könne aber nur eine genetische Untersuchung bringen. Der „weiße Steinbock“, der mit sicheren Schritten eine Gruppe von Steinböcken durch die Felsen führt, versetzt derweil die Berg- und Naturfreunde ins Staunen.
Eine Gruppe von Bergwanderern, die Anfang November in den Bergen des Susatals im Piemont unterwegs war, staunte nicht schlecht, als sie in rund 3.000 Metern Seehöhe in geringer Entfernung einen „weißen Steinbock“ erblickte. Die Bergwanderer zückten sogleich ihre Foto- und Videokameras, um diesen erhabenen Moment festzuhalten. Einmal in den sozialen Netzwerken gepostet, sorgten die Fotos und Videos, die den weißen Steinbock zeigen, für erhebliches Aufsehen. Dies rief bald Experten der alpinen Tierwelt auf den Plan.
Am 18. November gelang es Professor Luca Rossi, der an der Abteilung für Veterinärwissenschaften an der Universität von Turin tätig ist, und zwei Freiwilligen den „weißen Steinbock“ zu finden und ihm nahe genug zu kommen, um sein Aussehen beurteilen zu können. In der Tat stellten sie fest, dass das Tier den Körperbau eines Steinbocks aufweist. In einem ersten Moment vermuteten sie, dass es sich um einen Fall von Albinismus handle. Dann fiel ihnen aber auf, dass im Gegensatz zu Albinos die Augen eine normale, für Steinböcke übliche Pigmentierung zeigen.
Zudem besitzt das weiße Tier keine Hörner. Seltsamerweise nimmt der „weiße Steinbock“ trotz des Fehlens der Hörner unter den männlichen Steinböcken eine dominante Position ein. Da die Steinböcke während der Brunftzeit mit ihren Hörnern um die Gunst der Weibchen „kämpfen“, müsste ein Steinbock ohne Hörner eigentlich arg ins Hintertreffen geraten. Zudem werden normalerweise Tiere, die eine komplett andere und auffällige Färbung ihres Fells aufweisen, aufgrund der leichteren Sichtbarkeit durch Fressfeinde – in diesem Fall durch Wölfe – und der daraus folgenden Gefährdung der ganzen Gruppe von ihren Artgenossen verstoßen. Zu ihrer Überraschung entdeckten die Experten aber, dass der „weiße Steinbock“ nicht nur nicht aus der kleinen Herde vertrieben, sondern sogar zum „Führer“ der Gruppe auserkoren wurde. Die Wildtierforscher beobachteten, dass der „weiße Steinbock“ die ganze Gruppe sicher durch die Felsen führt und in jeglicher Hinsicht den Ton angibt.
Damit erhärtete sich der Verdacht, dass es sich beim „weißen Steinbock“ eigentlich um eine Kreuzung zwischen einem männlichen Steinbock und einer verwilderten Ziege handeln könnte. Es ist bereits seit Jahrzehnten bekannt, dass sich Capra ibex und Capra hircus zuweilen untereinander kreuzen und sogar fruchtbare Nachkommen in die Welt setzen. In den Westalpen wurden Fälle bekannt, dass Ziegen, die entlaufen und verwildert waren, die Nähe von männlichen Steinböcken gesucht und gefunden hatten. Da manche Ziegenrassen keine Hörner tragen, könnte die erfolgte Kreuzung mit einer Ziege auch das Fehlen der Hörner des „weißen Steinbocks“ erklären.
Heute vermuten die Forscher daher, dass es sich beim „weißen Steinbock“ um das Ergebnis einer „Sommerliebe“ handeln könnte.
Endgültige Sicherheit – so die Naturforscher – könne aber nur eine genetische Untersuchung bringen. Dazu sind aber Haare oder Kot, die eindeutig dem „weißen Steinbock“ zugeordnet werden können, notwendig. Ein Wildtierexperte fügte hinzu, dass es sehr schwierig sei, in den Bergen Kot von Steinböcken, die mit Sicherheit vom gesuchten Tier stammen, zu sammeln. In der Zwischenzeit werden sich die Experten daher damit begnügen müssen, weitere mehr oder wenige auffällige Indizien für diese oder jene These zusammenzutragen.
Sicher aber ist, dass mit dem „weißen Steinbock“ die Berge des Susatals um eine Attraktion reicher sind. Schon heute zieht das Tal Wanderer an, die mit dem alleinigen Ziel in die Berge gehen, den „weißen Steinbock“ zu sehen. Da der Steinbock auch in Südtirol vorkommt und in heimischen Gefilden Ziegen ohnehin zu den häufigsten Nutztieren gehören, lebt die Hoffnung, eines Tages auch Südtirol einen „weißen Steinbock“ bewundern zu können.