Von: ka
Trient/San Lorenzo Dorsino – Nach dem Tod des Bären M62, der wegen seiner „Zutraulichkeit und verlorenen Scheu“ vom Trentiner Landeshauptmann Maurizio Fugatti ebenfalls zum Abschuss freigegeben worden war, sind im Trentino die Wogen hochgegangen.
Militante Tierschützer vertrauen der offiziellen Darstellung der Trentiner Landesforstbehörde nicht, wonach M62 Opfer eines Angriffs eines Artgenossen geworden sei, sondern befürchten vielmehr, dass ein Wilderer den Bären getötet haben könnte. Um ihre Zweifel an der Todesursache des Bären auszuräumen, verlangen die Tierschützer, mit einem eigenen Sachverständigen an der Obduktion, mit der das Tierseucheninstitut der „drei Venetien“ betraut wurde, teilnehmen zu können. Ein anerkannter Experte, der Zoologe und Wildbiologe Filippo Zibordi, wirft jedoch ein, dass in der Wildnis der durch einen Artgenossen herbeigeführte Tod eines Bären kein seltenes Ereignis sei.
Laut dem letzten von der Trentiner Landesverwaltungen veröffentlichten Bericht wurde im Jahr 2021 der Tod von fünf Bären gemeldet. Während von einem Bären die Todesursache unbekannt war und ein weiterer Bär von einem Auto überfahren wurde, war dem Bericht zufolge der Tod von drei Bären auf einen Angriff von Artgenossen zurückzuführen.
Abgesehen von dem Phänomen, dass erwachsene Männchen fremde Jungtiere töten und fressen, um sich mit dem Weibchen zu paaren, seien – so der Zoologe Filippo Zibordi – Angriffe männlicher Bären auf ihre Artgenossen kein seltener und unnatürlicher Vorfall.
„Bären sind Einzelgänger. Sie haben viele Möglichkeiten, Begegnungen zu vermeiden. Um Artgenossen zu warnen und ihnen ihre Anwesenheit zu zeigen, hinterlassen sie auf dem Boden oder an den Bäumen Duftmarken und sichtbare Spuren, zu denen unter anderem auch Kratzspuren an Bäumen gehören können“, unterstreicht der Wildbiologe Filippo Zibordi.
„Kratzbäume sind Bäume, an denen sich Bären am Rücken kratzen und Krallenspuren hinterlassen. Beim Vorgang scheinen sie fast zu tanzen. Auf diese Weise hinterlassen sie ihre Duftmarke und schaffen eine Art eigenen Bereich, in dem sie Artgenossen ungern sehen“, erklärt der Zoologe, der an der Universität Insubrien von Varese und Como arbeitet.
„Im Trentino wurden etwa 100 Kratzbäume identifiziert, die diese besonderen morphologischen Merkmale aufweisen. Sie wurden genau deshalb entdeckt, weil es sich um Bäume handelt, an denen diese sehr markanten und charakteristischen Kratzer zu finden sind. Indem sich die Bären an den Bäumen kratzen, hinterlassen sie ihren Geruch und markieren auf diese Weise ihr Revier. Neben den tiefen Kratzern wurden an diesen Bäumen auch Haare des Bärenfells sichergestellt. Da aus den Haarwurzeln die DNA extrahiert und dadurch die genetische Überwachung der Tiere gewährleistet werden kann, sind diese Haare für uns sehr nützlich“, fügt Filippo Zibordi hinzu.
Auf die Frage, warum sich die Bären, die eigentlich immer dazu neigen, einander zu meiden, sich trotzdem gegenseitig angreifen, hat der Zoologe eine eindeutige Antwort. „Während der Brunftzeit werden die Bärinnen läufig. Die erwachsenen Bären werden durch ihren Lockruf stark angezogen. Um die läufigen Weibchen erreichen zu können, scheuen die Männchen nicht davor zurück, Dutzende von Kilometern zurückzulegen. Seit wir die Bären im Rahmen des Wiederansiedlungsprojekts von Life Ursus mit dem Funkhalsband verfolgen können – also praktisch von seinem Beginn an – beobachten wir jedes Jahr dieses Phänomen. Zwischen April und Mai sehen wir, wie sie sich über weite Strecken bewegen. Treffen zwei Bärenmännchen aufeinander, kann es zu Kämpfen kommen“, erläutert der Zoologe.
Allerdings können die Bären auch außerhalb der Brunftzeit zu aggressivem Verhalten neigen. „Da Bären Einzelgänger sind, können Begegnungen unter Artgenossen immer in einem Kampf enden. Insbesondere Individuen des gleichen Geschlechts neigen dazu, einander zu verjagen. Vor allem, wenn sich zwei männliche Bären treffen, sind Kämpfe immer möglich. Auch wenn die Bären kein ausgeprägtes Territorialverhalten zeigen und ihr Revier auch nicht gegenüber Artgenossen verteidigen, kann es im Falle, dass ein Bär seinen Besitzanspruch erhebt oder ein anderer ihn ihm streitig machen will, dennoch zu Kämpfen kommen. Das aggressive Verhalten nimmt zu, wenn als Lohn ein brünstiges Weibchen winkt. Erwachsene Bären können aber durchaus auch um Beute kämpfen. In der Regel tun die Bären aber alles, um einen Kampf zu vermeiden. Normalerweise zieht das schwächere Männchen von dannen“, zählt Filippo Zibordi alle möglichen Gründe für eine Auseinandersetzung unter Bären auf.
Da derzeit Brunftzeit herrscht und es sich bei M62 um ein noch relativ junges Männchen handelte, könne es durchaus gewesen sein, dass der junge Bär im Kampf um ein läufiges Weibchen gegen einen kräftigeren Artgenossen den Kürzeren gezogen habe.