Rauch steigt auf über Stepanakert

Berg-Karabach meldet Tote nach Angriffen

Dienstag, 19. September 2023 | 19:51 Uhr

Mehrere Stunden nach dem Beginn des aserbaidschanischen Militäreinsatzes ist die Zahl der Toten in der betroffenen Region Berg-Karabach nach örtlichen Angaben auf 25 gestiegen. “Mit Stand 20.00 Uhr gibt es 25 Opfer, darunter zwei Zivilisten, als Folge des umfassenden Terrorangriffs durch Aserbaidschan”, schrieb der Menschenrechtsbeauftragte der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach (Arzach), Gegam Stepanjan, am Dienstagabend auf X (vormals Twitter).

Darüber hinaus seien in der Konfliktregion im Südkaukasus bisher mindestens 138 Menschen verletzt worden, darunter 29 Zivilisten, teilte Stepanjan mit. Aus sechs Orten seien Bewohner vor dem aserbaidschanischen Beschuss in Sicherheit gebracht worden.

Aserbaidschan fordert als Bedingung für das Ende seines Militäreinsatzes die Niederlegung der Waffen und die Abdankung der armenischen Führung in Berg-Karabach. “Die illegalen armenischen Militärverbände müssen die weiße Flagge hissen und alle Waffen abgeben, und das ungesetzliche Regime muss abdanken”, heißt es in einer am Dienstag von örtlichen Medien verbreiteten Erklärung der Präsidialverwaltung in Baku. Anderenfalls würden die Kampfhandlungen bis zum Ende geführt, betonte die Führung der autoritär geführten Ex-Sowjetrepublik.

Als Reaktion auf den aserbaidschanischen Beschuss von Berg-Karabach kam es in Armeniens Hauptstadt Eriwan zu Protesten. Die Demonstranten forderten von ihrem Regierungschef Nikol Paschinjan ein entschiedeneres Vorgehen sowie Unterstützung der armenischen Bewohner Berg-Karabachs.

Aserbaidschan hatte nach eigenen Angaben Dienstagfrüh mit “Anti-Terroreinsätzen” in der Region Berg-Karabach begonnen. Die Einsätze richteten sich gegen armenische Kräfte, teilte das Verteidigungsministerium in Baku mit. In Stepanakert, der Hauptstadt der zwischen beiden Ländern seit Jahrzehnten umstrittenen Region, waren nach Angaben eines AFP-Reporters Explosionen zu hören. Die in Armenien ansässige Vertretung Berg-Karabachs sprach von einer “groß angelegte Militäroffensive”.

Zuvor waren aserbaidschanischen Angaben zufolge sechs Menschen bei Minenexplosionen getötet worden. Aserbaidschanische Sicherheitskräfte hatten mitgeteilt, zwei Zivilisten seien auf einer Straße in Richtung der Stadt Schuscha im aserbaidschanisch kontrollierten Teil Berg-Karabachs durch eine von armenischen “Sabotagegruppen” gelegte Mine getötet worden. Vier Polizisten wurden demnach später auf dem Weg zum Explosionsort bei einer weiteren Minenexplosion getötet.

Nach eigenen Angaben hat Baku Russland und die Türkei, die Schutztruppen bzw. Beobachter in der Konfliktregion stellen, über den “Anti-Terror-Einsatz” informiert. Es handle sich um eine “Anti-Terror-Operation lokalen Charakters zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung” in der Region. Man wolle den nach dem letzten Berg-Karabach-Krieg 2020 im Waffenstillstand festgeschriebenen Rückzug armenischer Truppen aus dem Gebiet durchzusetzen. Es werde nur auf militärische Ziele geschossen, behauptete das aserbaidschanische Verteidigungsministerium. Den Angaben aus Baku zufolge wurden zuvor zunächst eigene Stellungen von armenischer Artillerie angegriffen und mehrere Soldaten verletzt.

Armenien rief unterdessen den UN-Sicherheitsrat und Russland zu Maßnahmen zur Beendigung des Militäreinsatzes auf. Es seien “klare und eindeutige Schritte zur Beendigung der aserbaidschanischen Aggression” nötig, heißt es in einer von armenischen Medien verbreiteten Mitteilung des Außenministeriums in Eriwan. Regierungschef Paschinjan berief den nationalen Sicherheitsrat ein.

EU-Chefdiplomat Josep Borrell verurteilte in einem Statement die militärische Eskalation. Er forderte die “sofortige Einstellung der Feindseligkeiten” und appellierte an Aserbaidschan, die militärischen Aktivitäten zu beenden. Die EU setze sich weiterhin für einen Dialog ein, so Borrell. Ähnlich äußerte sich EU-Ratspräsident Charles Michel.

Das österreichische Außenministerium forderte in einer Stellungnahme auf X (vormals Twitter) ebenfalls einen sofortigen Stopp der militärischen Aktivitäten Aserbaidschans. Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock forderte Aserbaidschan auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Der Schutz der Zivilbevölkerung in Bergkarabach sei “auch Aufgabe der dort stationierten russischen Soldaten”, so Baerbock.

Frankreich strebt wegen des Militäreinsatzes eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats an. Das teilte das französische Außenministerium in Paris mit. Frankreich spreche sich eng mit seinen europäischen und amerikanischen Partnern ab, um eine starke Antwort auf die inakzeptable Offensive zu geben, hieß es.

Der Iran hat unterdessen seine Vermittlung in dem Konflikt angeboten. Der iranische Außenamtssprecher Nasser Kanaani forderte die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens von 2020 zwischen Aserbaidschan und Armenien, die beide eine Grenze mit dem Iran teilen. Erst vor wenigen Tagen hatte Irans Verteidigungsminister Mohammed-Resa Aschtiani vor einem Krieg in der Region gewarnt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wiederum hat sich hinter Aserbaidschan gestellt. Die Türkei unterstütze die Schritte zum “Schutz der regionalen Integrität Aserbaidschans”, sagte Erdogan zu Beginn der Generaldebatte der UN-Vollversammlung in New York. Später fügte er hinzu, er hoffe auf ein schnelles Ende der “Entwicklungen in der Region”.

Das christlich-orthodoxe Armenien und das muslimische Aserbaidschan, beides im Südkaukasus gelegene Ex-Sowjetrepubliken, sind seit langem verfeindet, wobei nach einem Krieg Anfang der 1990er Jahre um die zu Aserbaidschan gehörende, mehrheitlich aber von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach zunächst Armenien die Oberhand hatte. In einem zweiten Krieg 2020 siegte das mit Geld aus dem Öl- und Gasgeschäft hochgerüstete Aserbaidschan und eroberte Teile von Berg-Karabach und eigenes Territorium zurück. In kürzeren Militäraktionen danach besetzte Baku auch etwa 150 Quadratkilometer armenisches Staatsgebiet.

Von: APA/AFP/dpa/Reuters