Von: apa
Die EU-Staats- und Regierungschefs kommen am Donnerstag in Brüssel zu einem Gipfeltreffen zusammen, das als entscheidend nicht nur für die Zukunft der Ukraine, sondern auch der EU selbst gilt. Dominiert wird das Treffen von der umstrittenen Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögen für die Ukraine, die dringend Geld braucht. Auch am Tag vor dem Gipfel zeichnete sich keine Lösung ab. Österreich wird von Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) vertreten.
Selbst nach wochenlangen Verhandlungen auf Diplomatenebene wird bis zuletzt um eine Lösung gerungen. Immer noch ist Belgien, wo ein Großteil der Vermögen bei Euroclear lagert, nicht überzeugt. Auch weitere Staaten wie Ungarn oder Italien meldeten Bedenken an. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán etwa erteilte am Mittwochabend am Rande des EU-Westbalkan-Gipfels jeder Lösung eine Absage, die den ungarischen Bürger etwas koste. Österreich ist nicht gegen die Nutzung der Gelder, sah aber bisher rechtliche Fragen, die noch zu klären waren. Die Staatschefs hatten bei ihrem vorangegangenen Treffen Ende Oktober der Kommission den Auftrag erteilt, Finanzierungsoptionen für die klamme Ukraine zu suchen. In wenigen Monaten geht dieser das Geld aus, was auch ein baldiges Ende des Krieges – mit schlechtem Ausgang für die Ukraine und Europa – bedeuten würde.
Costa: Notfalls tagelang verhandeln
EU-Ratspräsident Antonio Costa, der bisher die Gipfeltreffen auf einen Tag gestrafft hatte, kündigte bereits an, die Staatschefs im Notfall “tagelang verhandeln” zu lassen. “Wie immer werde ich mich bemühen, unser Treffen auf einen Tag zu beschränken. Meine oberste Priorität ist es jedoch, die wichtigen Entscheidungen, die getroffen werden müssen, nämlich über die Finanzierung der Ukraine, zu treffen”, heißt es im offiziellen Einladungsbrief des Portugiesen.
Rund 210 Milliarden Euro an eingefrorenem russischem Staatsvermögen liegen in der EU, der Großteil davon in Belgien. Laut den Vorschlägen der EU-Kommission soll das Reparationsdarlehen bis zu 165 Milliarden Euro betragen. Kiew müsste das Geld nur dann zurückzahlen, wenn Moskau Reparationszahlungen leistet. Völkerrechtlich gilt dieses Konstrukt als legitim. Die zweite Möglichkeit zur Finanzierung der Ukraine bestünde in der Aufnahme von neuen EU-Schulden. Das wird jedoch von vielen EU-Ländern abgelehnt, außerdem müsste es dazu wohl ein einstimmiges Votum geben – was angesichts der Opposition Ungarns als ausgeschlossen gilt.
Die Vorschläge sehen auch Maßnahmen vor, um die Mitgliedstaaten und Finanzinstitute vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen innerhalb Russlands und vor unrechtmäßigen Enteignungen außerhalb Russlands zu schützen. Dies war vor allem an Belgien gerichtet, reicht dem Königreich aber bisher nicht aus. Um die Entscheidung notfalls gegen den Willen einiger Mitgliedsländer durchzubringen, könnte der Gipfel diese mit einer sogenannten qualifizierten Mehrheit aus Ländern und Bevölkerungsanzahl treffen.
Theoretisch Belgien überstimmen?
Unter Berufung auf den Artikel 122 des EU-Vertrags, der bei gravierenden Schwierigkeiten der Wirtschaft gilt, wurde vorige Woche der erste Schritt zur Nutzung der Vermögen gemacht: Das russische Vermögen wurde gegen die Stimmen Ungarns und der Slowakei dauerhaft eingefroren – bisher musste diese Regelung alle sechs Monate einstimmig erneuert werden. Theoretisch könnten die EU-Partner am Donnerstag in Brüssel auch Belgien überstimmen – ob sie dies wagen, wird von Beobachtern angezweifelt. Bundeskanzler Stocker schloss eine Lösung ohne Belgien am Mittwochabend aus. “Ich glaube, dass es gegen Belgien nicht beschlossen werden kann und soll”, betonte er am Rande des EU-Westbalkan-Gipfels. Wie immer die Lösung aussehen werde, sie werde “Belgien fassen müssen”, sagte der Bundeskanzler.
Denn die von allen akzeptierten Bedenken eines EU-Landes zu übergehen, das noch dazu viele EU-Institutionen beheimatet, könnte die EU ebenso in eine tiefe Krise stürzen wie keine Entscheidung über die weitere Ukraine-Finanzierung zu treffen. Zahlreiche EU-Diplomaten erklärten im Vorfeld, sie seien sich sicher, dass am Donnerstag oder Freitag eine Lösung gefunden wird. Dass ein weiterer (Sonder-)Gipfel mit dem Thema befasst wird, gilt als äußerst unwahrscheinlich.
Auch Stocker stellte fest: “Ich bin zuversichtlich, dass uns ein Ergebnis gelingt.” Aktuell liege nur ein Lösungsvorschlag auf dem Tisch, das sei das Reparationsdarlehen. “Wir werden sehen, wie die Bedingungen dafür sind”, so der Bundeskanzler. Österreich stehe allen Diskussionen offen gegenüber. Seinen Worten zufolge könnte der Gipfel ein “historischer” werden – “wenn wir zu einer Entscheidung kommen, wie wir mit der künftigen Finanzierung für die Ukraine umgehen wollen”, sagte er.
Meloni warnt vor möglichen rechtlichen Risiken
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni warnte unterdessen vor möglichen rechtlichen Problemen bei den Plänen zur Nutzung von eingefrorenem russischem Staatsvermögen zur finanziellen Unterstützung der Ukraine. Eine rechtlich zulässige Möglichkeit dazu zu finden, sei “alles andere als einfach”, sagte die rechte Regierungschefin einen Tag vor dem EU-Gipfel im italienischen Parlament.
Meloni erklärte, sie unterstütze Bemühungen, Russland die Kosten seines seit fast vier Jahren andauernden Angriffskriegs tragen zu lassen. Sie zeigte sich auch grundsätzlich offen für die Pläne zur Nutzung des russischen Staatsvermögens, aber nur, wenn die rechtliche Lage dafür solide sei. “Wäre die rechtliche Grundlage dieser Initiative nicht solide, würden wir Russland den ersten wirklichen Sieg seit Beginn dieses Konflikts schenken”, sagte sie weiter.
Neben der Zukunft der Ukraine stehen mit dem nächsten mehrjährigen EU-Budget, der Erweiterung, Migration, Nahost, Verteidigung und Wettbewerbsfähigkeit auch andere große Themen auf der Agenda des Gipfeltreffens. Zu allen diesen Themen werden zwar Schlussfolgerungen verabschiedet, aber keine Beschlüsse erwartet. Auch über das EU-Handelsabkommen Mercosur mit südamerikanischen Staaten, das eigentlich am Samstag unterzeichnet werden soll, könnte am Rande diskutiert werden. Derzeit wird weiter um eine Einigung unter den Mitgliedsländern gerungen.




Aktuell sind 1 Kommentare vorhanden
Kommentare anzeigen