Nächtliche Angriffe im Gazastreifen

Israel erklärt “Zweite Phase” im Krieg im Gazastreifen

Sonntag, 29. Oktober 2023 | 05:13 Uhr

Israel hat im Krieg gegen die radikale Palästinenserorganisation Hamas eine “Zweite Phase” ausgerufen und Gaza-Stadt zum “Schlachtfeld” erklärt. Regierungschef Benjamin Netanyahu sprach von Bodenoperationen und versprach, “den Feind über und unter der Erde zu vernichten” und alles zu tun, um die über 200 von der Hamas festgehaltenen Geiseln zu befreien. Die Hamas machte die Freilassung aller in Israel inhaftierten Palästinenser zur Bedingung für die Freilassung der Geiseln.

Die israelische Armee und Netanyahu riefen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen am Samstag nochmals nachdrücklich auf, “unverzüglich” in Richtung Süden zu flüchten. “Dies ist die zweite Phase des Krieges, dessen Ziele klar sind – die Zerstörung der Regierungs- und Militärkapazitäten der Hamas und die Heimkehr der Geiseln”, sagte Netanyahu vor Reportern. “Wir stehen erst am Anfang”, sagte er. Der werde Krieg “lang und hart” sein.

Die Notstandsregierung habe die Entscheidung zur Ausweitung der Bodeneinsätze einstimmig getroffen. Der Augenblick der Wahrheit sei gekommen: “Siegen oder aufhören zu existieren”, zitierte die italienische Nachrichtenagentur ANSA Netanyahu.

Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas, dessen Palästinensische Autonomiebehörde Teile des besetzten Westjordanlandes regiert, erklärte indes: “Unser Volk im Gazastreifen sieht sich einem Krieg des Völkermords und der Massaker gegenüber, die von den israelischen Besatzungstruppen vor den Augen der ganzen Welt verübt werden.”

Die israelische Armee flog in der Nacht zum Samstag ihre bisher heftigsten Angriffe in dem Palästinensergebiet seit Beginn des Krieges vor drei Wochen. Armee-Angaben zufolge wurden dabei 150 unterirdische und militärische Ziele der Hamas getroffen. Zudem sei einer der Hauptverantwortlichen für den Großangriff auf Israel getötet worden.

Palästinensischen Angaben zufolge wurden bei dem nächtlichen Beschuss hunderte Gebäude im Norden des Gazastreifens komplett zerstört. Auch in der Nacht auf Sonntag wurde der Hamas zufolge eine “große Zahl” an Menschen bei israelischen Luftangriffen auf zwei Flüchtlingslager im Norden des Gazastreifens getötet.

Nach israelischen Militärangaben sind bereits mindestens 700.000 Palästinenser in den Süden des Gazastreifens geflohen. Die Vereinten Nationen sprechen von 1,4 Millionen Binnenflüchtlingen. Insgesamt leben in dem dicht besiedelten Gebiet mehr als 2,2 Millionen Menschen. Am Samstag plünderten Binnenflüchtlinge ein UNO-Lebensmittellager.

UNO-Generalsekretär António Guterres kritisierte die “beispiellose Eskalation” der Luftangriffe im Gazastreifen scharf. “Statt der von ihm erwarteten Pause” habe es eine “beispiellose Eskalation der Bombardierungen und ihrer verheerenden Auswirkungen gegeben, welche die genannten humanitären Ziele untergraben”, sagte Guterres bei einem Besuch in Katar. Guterres forderte auch erneut eine sofortige Waffenruhe im Gazastreifen.

Wie Guterres forderte auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell eine “Pause der Feindseligkeiten”, um humanitäre Hilfen für die Menschen im Gazastreifen zu ermöglichen. Zugleich verurteilte der EU-Diplomat alle Angriffe auf Zivilisten, “einschließlich der anhaltenden wahllosen Raketenangriffe auf Israel”.

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) erinnerte Borrell daraufhin an den Beschluss des EU-Gipfels. “In Bezug auf die Situation im Nahen Osten ist es zwingend notwendig, an den Positionen festzuhalten, die von den Staats- und Regierungschefs innerhalb der EU klar zum Ausdruck gebracht wurden”, schrieb Schallenberg am Samstagabend auf der Onlineplattform X (Twitter) an Borrell gerichtet.

Die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Mirjana Spoljaric, forderte alle Seiten dazu auf, dem “unerträgliche” Leid der Zivilisten im Gazastreifen Einhalt zu gebieten. “Dies ist ein katastrophales Versagen, das die Welt nicht hinnehmen darf”, sagte Spoljaric.

Am Samstag wurden indes auch wieder israelische Städte vom Gazastreifen aus beschossen. In mehreren Ortschaften im Grenzgebiet zu dem Küstenstreifen heulten mehrmals Sirenen, wie die israelische Armee mitteilte. Auch im Großraum Tel Aviv und in Ashkelon gab es Luftalarm. In der Wüstenstadt Be’er Sheva wurde nach Polizeiangaben ein Gebäude durch eine Rakete getroffen.

Auch an Israels Grenze zum Libanon kam es am Samstag wieder zu Gefechten. Mehrere Panzerabwehrraketen und Mörsergranaten seien vom Libanon aus auf Israel abgefeuert worden, teilte die israelische Armee mit. Auch Militärposten entlang der Grenze seien beschossen worden. An der Grenze zwischen Israel und dem Libanon kommt es seit Beginn des Gaza-Kriegs zunehmend zu Zwischenfällen. Auf beiden Seiten gab es bereits Todesopfer.

Netanyahu weiß eigenen Angaben zufolge nicht, ob der Iran an der Planung des brutalen Terrorangriffs der islamistischen Hamas vom 7. Oktober beteiligt war. Er gehe davon aus, dass der Iran 90 Prozent des Militärbudgets der Hamas finanziere, sagte Netanyahu am Samstagabend. Ohne den Iran gebe es die Palästinenserorganisation nicht, betonte Israels Regierungschef. Gleiches gelte für die Hisbollah-Miliz.

Im Krieg zwischen Israel und der Hamas gibt es die Sorge, dass auch die pro-iranische Hisbollah vom Libanon aus stärker einsteigen könnte. Die Hisbollah gilt als weitaus gefährlicher für Israel als die im Gazastreifen herrschende Hamas. Der Libanon hat nach Worten ihres geschäftsführenden Premierministers Najib Mikati für den Fall, dass sich der Gaza-Krieg ausweitet, einen Notfallplan vorbereitet.

Durch den Terror der Hamas starben bisher rund 1.400 Israelis, rund 220 Menschen wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Auf der anderen Seite sind im Gazastreifen nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde in Ramallah 7.650 Menschen durch israelische Angriffe ums Leben gekommen. 19.450 seien verletzt worden. Nach Angaben des von der Hamas geleiteten Gesundheitsministeriums wurden seit Kriegsbeginn laut Angaben vom Sonntag mehr als 8.000 Menschen getötet. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Von: APA/dpa/Reuters/ANSA/AFP