Grenzübergang Rafah öffnete wieder

Israel: Hamas verliert Kontrolle im Norden des Gazastreifens

Sonntag, 12. November 2023 | 17:15 Uhr

Gut einen Monat nach dem Massaker der islamistischen Hamas an israelischen Zivilisten hat die im Gazastreifen herrschende Terrorgruppe nach israelischer Darstellung die Kontrolle über den Norden des Küstenstreifens verloren. Laut Israels Premier Benjamin Netanyahu haben Hamas-Kämpfer “keinen sicheren Ort mehr, um sich zu verstecken”. Auch das Militär teilte mit, die Hamas kontrolliere den Norden nicht mehr. Ob das auch für das weit verzweigte Tunnelsystem galt, war unklar.

Die Lage in den Krankenhäusern vor allem im heftig umkämpften nördlichen Teil wurde unterdessen immer dramatischer. Israel vermutet unter dem Shifa-Krankenhaus, dem größten Klinikkomplex des Gazastreifens, eine Kommandozentrale der Hamas. Zur Zukunft des Küstenstreifens nach einem Ende der Kämpfe äußerte sich Netanyahu ausweichend. Eine Verwaltung durch die Palästinensische Autonomiebehörde aus dem Westjordanland schloss er jedoch aus.

Nach Angaben eines im Shifa-Krankenhaus arbeitenden Arztes wurde weiter heftig in unmittelbarer Nähe des Spitals gekämpft. “Wir können kaum die Patienten im Krankenhaus behandeln und sind mitten im Kriegsgebiet”, sagte der Mediziner Ahmed Muchallalati am Sonntag dem Nachrichtensender Al-Jazeera. “Es gibt laufend Luftangriffe, und Drohnen kreisen in der Gegend des Krankenhauses.” Die medizinische Versorgung von Patienten sei mangels Strom, Wasser und Medikamenten fast zum Erliegen gekommen. Mehrere Patienten seien deshalb bereits gestorben. Die Angaben ließen sich nicht überprüfen. Israels Armee dementierte Vorwürfe über Angriffe.

Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, erklärte unterdessen im Sender CBS, die Vereinigten Staaten “wollen keine Feuergefechte in Krankenhäusern sehen, bei denen unschuldige Menschen, Patienten, die medizinische Versorgung erhalten, ins Kreuzfeuer” gerieten. “Und wir haben diesbezüglich aktive Konsultationen mit den israelischen Streitkräften geführt.” Er fügte hinzu, dass die USA an Verhandlungen zwischen Israel und Katar über die Freilassung der von der Hamas verschleppten rund 240 Geiseln beteiligt seien.

Israels Militär hatte den Zivilisten im Norden des Gazastreifens für Sonntag ein neues Zeitfenster für die Flucht in den Süden genannt. Zudem solle ein Durchgang zwischen dem Shifa-Krankenhaus und einer Verbindungsstraße in Richtung Süden geschaffen werden, teilte die Armee auf der Plattform X mit. Der Fluchtkorridor sei zwischen 09.00 Uhr und 16.00 Uhr Ortszeit (08.00 Uhr bis 15.00 Uhr MEZ) geöffnet. Augenzeugen zufolge flohen Tausende meist zu Fuß nach Süden.

Von Hamas-Chef Jihia al-Sinwar “bis zum letzten Terroristen” seien alle todgeweiht, sagte Netanyahu. Die Armee habe bereits Tausende Terroristen getötet, darunter auch “Kommandanten, die das schreckliche Massaker am 7. Oktober angeführt haben”. Israel hat seither mehr als 1.200 getötete Zivilisten und Soldaten zu beklagen. Die von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden im Gazastreifen berichten von mehr als 11.000 Toten durch die israelischen Angriffe.

Netanyahu betonte, es werde keine Waffenruhe ohne Freilassung der 239 Geiseln geben. Zu den diplomatischen Bemühungen, deutete Netanyahu einen möglichen Deal an. Man werde die Familien informieren, sobald es etwas Konkretes gebe. Bis dahin sei es besser, zu schweigen, sagte Netanyahu am Sonntag dem US-Fernsehsender NBC: “Je weniger ich darüber sage, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zustande kommt.” Falls etwas gelinge, sei es allein Ergebnis von militärischem Druck, betonte Netanyahu.

Netanyahu erklärte erneut, Israel wolle nach einem Sieg über die Hamas die Sicherheitskontrolle im Gazastreifen behalten. Der Küstenstreifen müsse entmilitarisiert werden. Zugleich schloss er aus, dass die gemäßigtere Palästinensische Autonomiebehörde (PA) aus dem Westjordanland wieder die Kontrolle auch über den Gazastreifen übernehmen könnte.

Israel werde im Gazastreifen keine Verwaltung akzeptieren, “die ihre Kinder dazu erzieht, Israel zu hassen, Israelis zu töten oder Israel zu eliminieren”. Es müsse “etwas anderes” sein. Von dort war die von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas geleitete Organisation 2007 von der Hamas vertrieben worden.

Auf anhaltende Angriffe aus dem benachbarten Libanon reagierte Israel mit einer deutlichen Warnung an die dort ansässige Schiitenmiliz Hisbollah. “Macht nicht den Fehler, in den Krieg einzusteigen. Das wäre der Fehler eures Lebens”, sagte Ministerpräsident Netanyahu am Samstagabend an die Hisbollah gerichtet, die wie die Hamas hauptsächlich vom Iran finanziert wird.

Israels Verteidigungsminister Joav Galant sagte, der größte Teil der israelischen Luftwaffe sei nicht mehr mit dem Gazastreifen beschäftigt. Die Flugzeugnasen seien nun nach Norden gerichtet. Die Bürger des Libanons müssten wissen: Wenn Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah einen Fehler begehe, “das Schicksal Beiruts wie das Schicksal Gazas sein könnte”, sagte Galant.

Aus dem Gazastreifen reisten erneut Hunderte Ausländer und Palästinenser mit zweitem Pass aus. Mehr als 800 von ihnen hätten den Grenzübergang Rafah nach Ägypten überquert, sagte am Sonntag ein Sprecher des Kontrollpunkts auf palästinensischer Seite. Damit hätten seit Wiederöffnung der Grenze vor etwa eineinhalb Wochen rund 2.700 Ausländer und Palästinenser mit zweitem Pass das abgeriegelte Küstengebiet verlassen. Darunter befanden sich auch mehrere Österreicherinnen und Österreicher.

Von: APA/dpa/Reuters