Der ukrainische Premier Schmyhal bei der Konferenz in London

Ukrainischer Premier: “113 Quadratkilometer zurückerobert”

Donnerstag, 22. Juni 2023 | 15:22 Uhr

Die ukrainische Armee hat nach Angaben von Premierminister Denys Schmyhal in der laufenden Gegenoffensive inzwischen acht Dörfer und 113 Quadratkilometer besetzten Gebiets zurückerobert. Ukrainische Truppen seien auf einer Tiefe von bis zu sieben Kilometer in russisch besetztes Gebiet vorgestoßen. Zudem haben ukrainische Truppen eine der drei Straßenbrücken beschossen, die die teilweise besetzte Oblast Cherson mit der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim verbindet.

“Das ist ein riesiges Territorium”, kommentierte Schmyhal am Donnerstag bei der Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine in London die aktuelle Zwischenbilanz. “Wir haben gute Ergebnisse”. Trotzdem mahnte er zu Geduld. Bei einer Gegenoffensive handle es sich um eine Reihe militärischer Einsätze, einige davon seien offensiv, andere defensiv. Manchmal seien taktische Pausen notwendig. Verlangsamt werde das Vorrücken zudem durch von den Russen angelegte Minenfelder, so Schmyhal.

“Wir werden unsere Soldaten nicht verfeuern, wie die Russen das tun”, so der ukrainische Premier. Jedes Leben zähle. Er fügte hinzu: “Wir werden sehr durchdachte Offensiveinsätze durchführen. Deswegen könnte es Zeit brauchen.” Man sei jedoch “absolut optimistisch”, das gesamte von Russland besetzte Gebiet wieder zurückerobern zu können.

Bei der Ukraine Recovery Conference am Mittwoch und Donnerstag in London wurde darüber diskutiert, wie das seit Februar 2022 von Russland angegriffene Land wieder aufgebaut und die Wirtschaft wieder in Schwung gebracht werden kann. Die britischen Gastgeber hatten dabei private Investitionen in den Fokus gestellt.

Ukrainische Truppen haben am Donnerstag eine wichtige Brücke angegriffen, die das Festland mit der 2014 annektierten Halbinsel Krim verbindet. Die Brücke sei mit Raketen vom Typ Storm Shadow beschossen worden, teilte der von Russland für die Oblast Cherson eingesetzte Gouverneur, Wladimir Saldo, am Donnerstag mit. Die Straße sei beschädigt worden, der Verkehr werde umgeleitet. Opfer habe es nicht gegeben.

Die Reparatur der Brücke könnte nach russischen Angaben mehrere Wochen dauern. Das schätzt ein von Russland entsandter Mitarbeiter des Verkehrsministeriums der Nachrichtenagentur RIA zufolge. Von der ukrainischen Regierung war zunächst keine Stellungnahme zu erhalten. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, wieder die Kontrolle über die Krim zu erlangen und alle russischen Truppen von ihrem Staatsgebiet zu vertreiben.

“Die Terroristen in Kiew wollen die Bewohner von Cherson einschüchtern und Panik unter der Bevölkerung verbreiten, aber das wird ihnen nicht gelingen. Wir wissen, wie man Brücken schnell repariert: Die Durchfahrt für Fahrzeuge wird in naher Zukunft wiederhergestellt sein”, sagte Saldo. Es gebe weiterhin eine Verbindung zwischen der Region Cherson und der Krim, eine Ersatzstrecke für Fahrzeuge sei eingerichtet worden.

Die Tschonhar-Brücke – auf Russisch Tschongar-Brücke – ist eine von drei Anfahrtsrouten von der Krim ins nördlicher gelegene und ebenfalls zu Teilen okkupierte Gebiet Cherson. Die Brücke, auch Tor zur Krim genannt, ist Teil einer Straße, die vom russischen Militär genutzt wird, um sich zwischen der Krim und anderen von Russland besetzten Teilen der Ukraine zu bewegen.

Für Moskau ist es strategisch wichtig, das Gebiet vom Westen des Asowschen Meeres bis zum Ostufer des Flusses Dnipro (Russisch Dnjepr) zu kontrollieren, sodass die Krim nicht abgeschnitten vom direkten Zugang zu Russland ist. Würde die Ukraine diese Verbindungen zerstören, könnte das für sie von Vorteil sein, um die Halbinsel zurückzuerobern oder dies als Druckmittel für mögliche Verhandlungen nutzen.

Aus russischer Sicht haben die Ukrainer ihre Gegenoffensive in den russisch besetzten Gebiete reduziert und sind derzeit dabei, ihren Truppen “neu zu gruppieren”. Zuvor hätten Kiews Truppen “bedeutende Verluste erlitten”, sagte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Donnerstag staatlichen Nachrichtenagenturen zufolge bei einem Treffen des Nationalen Sicherheitsrats.

“Nachdem der Feind in den vergangenen 16 Tagen aktiv Kampfhandlungen vorgenommen und dabei bedeutende Verluste erlitten hat, hat er seine Aktivitäten reduziert und ist dabei, sich neu zu gruppieren”, sagte Schoigu. Er gab zudem an, dass die militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine auf dem Schlachtfeld nicht ins Gewicht falle – obwohl Moskau zuvor immer betont hatte, dass die Waffenlieferungen den Konflikt unnötig verlängerten. “Wir sehen dadurch keine Bedrohung, vor allem weil wir Reserven bilden”, sagte der Verteidigungsminister mit Blick auf die westlichen Waffenlieferungen.

Der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, hat Russlands Militärführung indes Lügen und das Verschweigen von Fakten über die Lage an der Front vorgeworfen. Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow tischten Präsident Wladimir Putin “Blödsinn” auf, sagte Prigoschin in einer am Donnerstag veröffentlichen Sprachnachricht bei Telegram.

Von: APA/Reuters/dpa