Für Deutschen Buchpreis nominiert

Die “Option” und ihre Folgen: Sepp Malls “Ein Hund kam in die Küche”

Montag, 04. September 2023 | 11:05 Uhr

Die “Option”, der Druck auf deutschsprachige Südtiroler, sich ab 1939 für einen Verbleib in Italien oder eine Auswanderung ins Deutsche Reich zu entscheiden, ist eine der tiefen Wunden in der Geschichte Südtirols, die auch literarisch immer wieder behandelt wurden. Nun hat sich auch der 1955 in Graun geborene und in Meran lebende Sepp Mall dem Thema gewidmet. Mit seinem Roman “Ein Hund kam in die Küche” hat er es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft.

Mall, von dem zuletzt der Roman “Hoch über allem” (2017) und der Gedichtband “Holz und Haut” (2020) erschienen, behandelt anhand der von dem Buben Ludi erzählten Geschichte gleich mehrere Tragödien der 1930er- und 40er-Jahre. Im Mittelpunkt des Romans, an dem Mall fünf Jahre lang gearbeitet hat, steht die NS-Umsiedlungspolitik, bei der rund 75.000 Menschen ihre angestammte Heimat in Südtirol verließen und unter schwierigen Bedingungen anderswo Fuß zu fassen suchten. Familien wurden dabei zerrissen, jede Seite bezeichnete die andere als Verräter, und auch in der vom Regime zugeteilten neuen Heimat wurden die Neuankömmlinge meist nicht gerne gesehen.

Alle diese Erfahrungen muss Ludis Familie machen und dabei noch zwei weitere Dinge aushalten. Der Vater ist der NS-Propaganda rund um den “deutschen Volkskörper” aufgesessen, zwingt Frau und Kinder gegen ihren Willen zur Auswanderung aus dem Vinschgauer Mariendorf und lässt sie am neuen Wohnort im “Gau Oberdonau” (also in Oberösterreich) mit den Folgen alleine. Er meldet sich freiwillig an die Front und wird nach Frankreich, später nach Russland geschickt. Außerdem wird Ludis jüngerer Bruder Hanno von der Familie getrennt und in einem Heim untergebracht. Seine Behinderung wird von den Behörden als Beeinträchtigung der Volksgesundheit eingestuft. Was aber nach außen als Fürsorge aussieht, ist in Wahrheit das NS-Euthanasieprogramm, und bald erhält die Familie von einer “Heil- und Pflegeanstalt” ein trockenes amtliches Schreiben, in dem mitgeteilt wird, dass Hanno an einer Lungenentzündung gestorben sei. Die Eltern ahnen wohl, dass es sich anders verhält – doch gesprochen wird nicht darüber. Getrauert sehr wohl.

In Malls Roman lebt Hanno freilich weiter. In der Fantasie des Ich-Erzählers. “Hanno war nicht wirklich tot. Wenn ich allein war, tauchte er unvermittelt auf, so wie ein Gespenst. In unserer Bubenkammer, bevor ich einschlief, oder wenn ich in der Umgebung herumstreunte. Vielleicht war es auch nur seine Seele, die aussah wie er, wer weiß?” Mit diesen Passagen trifft Mall die Leser ins Herz. Hier entfaltet das Buch, in dem die Weltaneignung eines Kindes mit allen ihren Fragen und Missverständnissen auch sprachlich hervorragend nachvollzogen wird, eine große poetische Kraft. Die Fantasie weigert sich, die Realität anzuerkennen. Diese zu bewältigen, übersteigt die Kraft der Familie.

Nach Kriegsende entschließt sich die Mutter, mit ihrem Buben wieder nach Südtirol zurückzukehren, während der Vater weiter als vermisst gilt. Es ist ein Neuanfang unter schwierigen Bedingungen, die auch nicht wirklich besser werden, als der Vater eines Tages überraschend aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt. Er ist ein gebrochener Mann – und verbringt seine Tage am liebsten in einem selbst gezimmerten Verschlag im Freien oder im Wirtshaus. Ludi ist mittlerweile fast so groß wie der Vater. Hanno erscheint ihm nicht mehr. Vergessen ist er aber nicht. “Hannos sauber geputzte Sandalen gehörten zu den Sachen, die in meiner Schatzkiste lagen und die ich niemals loslassen würde.”

Von: apa

Bezirk: Vinschgau