Tonio Schachinger gewinnt den Deutschen Buchpreis

Österreicher Schachinger gewinnt den Deutschen Buchpreis

Montag, 16. Oktober 2023 | 22:31 Uhr

Der junge Wiener Tonio Schachinger hat mit seinem Schulroman “Echtzeitalter” den Deutschen Buchpreis 2023 gewonnen. Das wurde soeben im Frankfurter Römer bekannt gegeben. Die prestigereiche Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres ist mit 25.000 Euro dotiert. Nominiert waren auch Terézia Mora (“Muna oder Die Hälfte des Lebens”), Necati Öziri (“Vatermal”), Anne Rabe (“Die Möglichkeit von Glück”), Sylvie Schenk (“Maman”) und Ulrike Sterblich (“Drifter”).

Der 31-jährige Schachinger, als Sohn eines österreichischen Diplomaten und einer mexikanisch-ecuadorianischen Künstlerin in Neu-Delhi geboren, verarbeitet in “Echtzeitalter” seine eigene Schulzeit im Wiener Theresianum und liefert mit seinem Roman quasi eine Weiterführung von Friedrich Torbergs “Der Schüler Gerber” aus dem Jahr 1930. Protagonist Till Kokorda ist der neue Kurt Gerber und sein Klassenvorstand, der Deutschprofessor Dolinar, der neue “Gott Kupfer”: gefürchtet, ungerecht, fordernd, auf Pünktlichkeit und Disziplin höchsten Wert legend, seine Schüler immer wieder beschimpfend und mit umfangreichen Strafen ihre karge Freizeit minimierend. Die braucht Till aber dringend, denn im Internet-Gaming arbeitet er sich gerade in die Weltspitze vor. Auch Schachinger selbst hat eine erstaunliche Karriere hingelegt: Schon sein Debütroman “Nicht wie ihr”, der die Innensicht auf das Leben eines jungen österreichischen Topfußballprofis bot, schaffte es 2019 in die Endauswahl für den Deutschen Buchpreis.

“Auf den ersten Blick ist Tonio Schachingers ,Echtzeitalter’ ein Schulroman. Auf den zweiten viel mehr als das: ein Gesellschaftsroman, der das Aufwachsen seines Helden Till an einer Wiener Eliteeinrichtung beschreibt, an der die künftigen Leistungsträger*innen mit reaktionärem Drill und bildungsbürgerlichen Idealen aufs Leben vorbereitet werden. Aus dieser repressiven Umgebung, verkörpert durch den mephistophelischen Lehrer Dolinar, flüchtet sich Till in die Welt des Gaming”, heißt es in der Jurybegründung. “Mit feinsinniger Ironie spiegelt Schachinger die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart: Aus gebildeten Zöglingen spricht die rohe Gewalt. Die Welt der Computerspiele bietet einen Ort der Fantasie und Freiheit. Auf erzählerisch herausragende und zeitgemäße Weise verhandelt der Text die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Literatur.”

Schachinger zeigte sich bei der Entgegennahme der Preisurkunde relativ unbeeindruckt. “Ich freue mich sehr darüber – vielleicht merkt man es mir nicht an, aber es ist wirklich so.” Er bedankte sich nicht bei der Jury und dem Börsenverein, denn die machten schließlich nur ihren Job. “Tatsächlich bedanken möchte ich mich bei meiner Frau Margit, die heute hier ist, und von der ich alles gelernt habe, was ich weiß in diesem Leben.” Deren heuer erschienenen Roman wolle er allen ans Herz legen. Der dabei angesprochene Roman von Margit Mössmer trägt übrigens einen passenden Titel: “Das Geheimnis meines Erfolgs.”

“Wir wissen alle, dass das hier nicht das Wichtigste ist”, sagte er unter Verweis auf die Weltlage. “Es macht mich wirklich fertig, die Nachrichten zu sehen.” Es sei zwar “sinnlos, wenn ich etwas dazu sage, gleichzeitig ist es auch schwer, nichts zu sagen”, denn es sei “einfach unerträglich zu sehen, was passiert auf dieser Welt”.

Dass er mit seinem zweiten Buch diesen Preis gewinnen konnte, spreche “für das große Talent und die literarische Kraft des jungen Erzählers aus Österreich”, meinte Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) am Abend in einer Gratulation: “Es ist eine Auszeichnung für die gesamte österreichische Gegenwartsliteratur, dass sich einer ihrer Vertreter unter der Vielzahl der hochkarätigen Kandidatinnen und Kandidaten in der deutschsprachigen Buchwelt durchsetzen konnte.” Tonio Schachinger ist erst der dritte Österreicher, der den Deutschen Buchpreis gewinnen konnte. Den ersten Buchpreis gewann 2005 der Vorarlberger Arno Geiger mit “Es geht uns gut”. 2017 folgte Robert Menasse mit “Die Hauptstadt”.

In diesem Jahr waren insgesamt 196 Romane von 113 deutschsprachigen Verlagen im Rennen. Von den teilnehmenden Verlagen stammten 83 aus Deutschland, 20 aus Österreich und zehn der Schweiz. Auf die Longlist hatten es mit Clemens J. Setz, Raphaela Edelbauer, Thomas Oláh, Teresa Präauer, Kathrin Röggla und Tonio Schachinger sechs Autorinnen und Autoren aus Österreich geschafft.

Der Deutsche Buchpreis gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen der Branche und wird seit 2005 verliehen. Der Preis ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert: Der Sieger oder die Siegerin erhält 25.000 Euro, die übrigen Autoren der Shortlist jeweils 2.500 Euro. Der Deutsche Buchpreis wird von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels traditionell einen Tag vor Eröffnung der Frankfurter Buchmesse vergeben. Im vergangenen Jahr ging der Preis an Kim de l’Horizon für den Roman “Blutbuch”.

Die Reden bei der diesjährigen Preisverleihung waren von nachdenklichen Worten geprägt. Die Vorsteherin des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, zeigte sich besorgt über die Lage der Meinungsfreiheit. Es mache ihr Sorgen, wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller davon ausgingen, dass ein Buch wie “Die satanischen Verse” des diesjährigen Trägers des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Salman Rushdie, heute weder geschrieben werden noch einen Verlag finden könne, sagte Schmidt-Friderichs. Es mache ihr auch Sorgen, dass in den USA derzeit manche Bücher aus den Schulen verbannt werden.

“90 Jahre nachdem in Deutschland Bücher brannten, möchte ich in aller Deutlichkeit Bücherschreiben und Publizieren als Grundlage der Demokratie hervorheben”, sagte Schmidt-Friderichs. Lesen sei Empathietraining und Toleranzschulung. Die Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig ging in ihrer Rede auf einen Streit rund um den Buchpreis ein. Es verstöre sie, dass neuerdings Autorinnen und Autoren das Recht abgesprochen werde, über etwas zu schreiben, was sie nicht persönlich erlebt haben, sagte sie zu der Debatte über das am Ende nicht auf der Shortlist des Buchpreises gelandete Buch “Gittersee” von Charlotte Gneuß.

Die Autorin des in der DDR spielenden Buchs war erst nach der Wende geboren worden und stammt aus Westdeutschland, Kritiker hatten ihr zahlreiche Mängel vorgeworfen. Hartwig sagte zu der Debatte um Gneuß, deren Alter und Herkunft: “Wenn das der Maßstab sein soll, dann können wir nämlich die Literaturgeschichte einmotten, dann wäre das der Tod von Fantasie und Poesie.”

(S E R V I C E – https://www.deutscher-buchpreis.de/)

Von: APA/AFP