Schmunzeln und Nachdenken über Leserbriefe aus den frühen 1900ern

Leserbrief-Sammlung aus frühem 20. Jahrhundert in Buchform

Dienstag, 27. Juni 2023 | 08:35 Uhr

Was die Wiener, vor allem aber die Wienerinnen Anfang des 20. Jahrhunderts bewegt hat, lässt sich aus dem im Frühjahr im ueberreuter-Verlag erschienenen Buch “Ein bisserl schimpfen, ein bisserl räsonieren” herauslesen. Autor Stefan Franke hat die Leserbrief-Rubrik der Zeitschrift “Wiener Hausfrau” nach Bonmots und interessanten Themen durchforstet, das Ergebnis ist nicht nur ein Spiegel der damaligen Gesellschaft, denn viele der Themen kennt man auch von heute.

Mit Hilfe von “ANNO”, dem Online-Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek, hat Franke die Beschwerderubrik “Klaghansl” dieser Wochenzeitschrift in den Jahrgängen 1909 bis 1915 auf Schmankerln durchsucht – und das sehr erfolgreich. Die von ihm ausgewählten Beiträge – zum Großteil dürften sie von Frauen aus dem bürgerlichen Milieu stammen – hat der Autor je nach Themen in Kapitel sortiert, deren Aufhänger etwa die Gastronomie, (lärmende) Kinder, Sauberkeit und Hygiene oder das Verhalten in der Straßenbahn sind. Die Lektüre gibt einen lebhaften Einblick in den Alltag der damaligen Zeit – verbunden mit der Erkenntnis, dass es mehr als 100 Jahre später gar nicht so viel anders ist.

Das Verhalten von Kindern, die von so mancher Leserbrief-Schreiberin als “schlecht erzogen” wahrgenommen werden, Rücksichtslosigkeit in öffentlichen Verkehrsmitteln, Hunde im Restaurant oder gar Unrat auf der Straße? Soll alles auch in unserem Jahrhundert vorgekommen sein… Unterschiede zu heute ergeben sich einerseits aus der sprachlichen Formulierung, denn würde man sich heute noch darüber echauffieren, wie “viele Herren mit ihrem Spazierstocke hantieren”? Auch die Rollen der Geschlechter waren zur Zeit der Existenz des “Klaghansl” ganz offensichtlich noch anders gewichtet – wird doch in manch zitiertem Brief ernsthaft der Frage nachgegangen, was eine Frau alles lernen muss, um ihrem Gatten eine möglichst gute und treu dienende Ehefrau zu sein.

Fazit der durchaus amüsanten, aber auch vielfach zum Nachdenken anregenden Leserbrief-Sammlung: “‘Ein bisserl schimpfen und räsonieren’, da geht einem in unserer lieben Wienerstadt der Stoff nicht aus”, wie es in einem zitierten Beitrag heißt. Ganz allgemein lässt das Buch den Rückschluss zu, dass es da, wo viele Menschen zusammenkommen, immer unterschiedliche Auffassungen und Gewohnheiten und somit großes Konfliktpotenzial gibt.

Einen wesentlichen Unterschied zwischen “damals” und “heute” hat Stefan Franke jedoch herausgefunden: Geht es in aktuellen Leserbriefen oder auch in den sozialen Medien hauptsächlich nur darum, Dampf abzulassen und seinen Zorn loszuwerden, so war die in diesen Leserbriefen aus dem frühen 20. Jahrhundert geäußerte Kritik an verschiedensten Dingen vielfach mit konstruktiven Vorschlägen, Anregungen oder Bitten an Behörden und Ämter verknüpft.

(S E R V I C E – Stefan Franke: “Ein bisserl schimpfen, ein bisserl räsonieren. Leserbriefe anno dazumal”, ueberreuter, 160 Seiten, 22,00 Euro)

Von: apa