Von: luk
Bozen – Menschen auf der Flucht erleben oft schlimmste Angriffe auf Körper und Psyche: Die Bandbreite reicht von Folter bis hin zu Vergewaltigungen oder anderen schweren Traumen. Der Gesetzgeber sieht vor, dass jeder ein Anrecht auf medizinische Grundversorgung hat. In einer Tagung wurden vergangenes Wochenende in Bozen verschiedene Aspekte dieses Themas von Fachleuten diskutiert.
Die zweitägige Tagung behandelte Themen wie z.B. die Sexualaufklärung, aber auch Prostitution, Frauenhandel, Beschneidung – Fragestellungen, mit denen sich das Personal des Gesundheits- und Sozialbereiches im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten immer wieder konfrontiert sieht. Ethische Konfliktfelder können ebenso der Lebensabend von Menschen aus fremden Kulturen sein.
Erwin Steiner zeigte die Rolle des Notfallpsychologen auf und berichtete aus seinem Alltag. Der bekannte Trauma-Experte der Universität Mailand, Guido Veronese, erklärte die unsichtbaren Folgen der Flucht aus der Sicht eines Psychologen. Franco Perino, Dermatologe am Krankenhaus Bozen, sprach darüber, wie sich Folterspuren auf der Haut zeigen und welche Methoden es im Erkennen und Behandeln dieser Verletzungen gibt.
Denn obwohl die Zahl der Flüchtlinge und Migranten rückläufig ist, gibt es immer wieder Menschen, die gesundheitliche Hilfe benötigen. Eine besondere Herausforderung, denn oftmals kommen sprachliche Verständigungsprobleme dazu, die nur mit der Unterstützung eines interkulturellen Mediators gelöst werden können. Besonders notwendig ist dies oft bei Frauen mit Kleinkindern oder Schwangeren. Auch sie waren oftmals Gewalt ausgesetzt auf dem Weg nach Europa. Ihnen wird eine Basisversorgung, die dringend notwendig ist, garantiert: „Die medizinische Grundversorgung ist gesetzlich vorgeschrieben, und das nicht nur aus humanitären, sondern auch aus sozioökonomischen Gründen: Je später jemand behandelt wird, desto höher sind die Kosten für die Allgemeinheit“, erklärt Maximilian Benedikter, Leiter der seit 2007 im Krankenhaus Bozen angesiedelten STP-Ambulanz („stranieri temporaneamente presenti“/“vorübergehend anwesende Ausländer“), in der jährlich rund 1.400 Patienten betreut werden.
Das Team der Ambulanz für vorübergehend anwesende Ausländer setzt sich zusammen aus 13 Ärzten der Bereiche Anästhesie, HNO, Hämatologie, Gefäßchirurgie, Infektionsmedizin, innere Medizin und Pädiatrie. Ebenso verrichten ihren Dienst Hausärzte sowie eine Krankenpflegerin. „Jeder von uns arbeitet ein- bis zweimal monatlich entweder in der Ambulanz oder in den verschiedenen Erstaufnahmezentren“, erklärt Pflegekoordinatorin Astrid Santoni.
Eine Erstabklärung überprüft den Gesundheitszustand und dokumentiert diesen, es folgen Blutabnahmen und Lungenröntgen, bei Bedarf auch Impfungen.
Auf Anforderung der Staatsanwaltschaft wird das Alter von unbegleiteten Minderjährigen abgeklärt (durch Röntgen des Handgelenks, pädiatrische Visite).
Für Sanitätsdirektor Thomas Lanthaler ist es wichtig, dass sich Fachleute zu diesem Thema interdisziplinär austauschen: „Für uns als Kliniker ist es nicht möglich, vor dieser europaweiten Herausforderung die Augen zu verschließen. Wir müssen jedoch daran arbeiten, dass wir eine Grundversorgung anbieten, die unserer modernen Medizin entspricht. Dazu gehört auch eine angemessene Vorsorge, die Betreuung der Kinder und Schwangeren, aber auch der korrekte Umgang mit Themen wie sexueller Gewalt“.
Das komplexe Themenfeld „Migration und medizinische Versorgung“ vertiefen und versachlichen – dies waren die besonderen Anliegen der drei Veranstalter des Kongresses, Tanja Nienstedt, wissenschaftliche Leitung, Astrid Santoni und Maximilian Benedikter.
Zielgruppe der zweitägigen Veranstaltung waren Ärzte und Gesundheitspersonal des Südtiroler Sanitätsbetriebes und Vertreterinnen und Vertreter anderer Organisationen/Berufsbilder, die im lokalen Flüchtlings- und Migrationsbereich tätig sind. Ebenso geladen war Gesundheitslandesrat Thomas Widmann.
Tanja Nienstedt: „Die Besonderheit der Veranstaltung lag im Brückenschlag zwischen medizin- ethischer und sozialanthropologischer Auseinandersetzung mit Migration und Medizin und den Erfahrungen praktisch engagierter Berufstätiger und Freiwilliger. So war das Ziel, theoretisches wie praxisrelevantes Wissen zur Gesundheitsbetreuung von Migrantinnen und Migranten in der Autonomen Provinz Bozen zu erarbeiten und anzubieten, und länderübergreifende Netzwerke zu schaffen, um so Gesundheitspersonal gezielter aus- und weiterzubilden zu können.“ Die thematische Ausrichtung des Kongresses folgte der Überzeugung, dass die medizinische Fachkenntnis durch sozial- und kulturwissenschaftliche Kompetenzen ergänzt werden müssten, um die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern. 15 nationale und internationale Fach-ReferentInnen deckten mit Impulsreferaten eine breite Vielfalt an Themen ab: von der medizinischen Erstversorgung von Geflüchteten, Immigrations- und Integrationspolitiken, medizinische-krankenpflegerische Aspekte im interkulturellen Kontext, (un-)sichtbare Folgen der Flucht (psychische Traumata, Spuren von Folter in der Dermatologie), bis hin zur Rolle der Kulturmediaton und Kommunikation, sowie medizinanthropologische und ethische Aspekte von Krankheit-Heilung und Sterben in der Fremde.
Tanja Nienstedt arbeitet als Allgemeinärztin in Bozen und ist Vizepräsidentin des Vereins „Südtiroler Ärzte für die Welt“, Astrid Santoni ist Pflegekoordinatorin der Poliambulatorien und der Ambulanz für vorübergehend anwesende Ausländer im Krankenhaus Bozen und Maximilian Benedikter ist Anästhesist und Verantwortlicher Arzt der vorgenannten Ambulanz.
Die hohe Anzahl von Kongressbesuchern (150) zeugte von dem Bedürfnis und der Offenheit, sich nicht nur praxisrelevantes Wissen, sondern auch interkulturelle Kompetenzen anzueignen.