Ukrainische Demografin prophezeit düstere Zukunft

“100.000 Soldaten gefallen, im Land nur mehr halb so viele Bürger”

Montag, 02. Oktober 2023 | 08:05 Uhr

Kiew/Mailand – Die angesehene ukrainische Wirtschaftswissenschaftlerin und Demografin Ella Libanowa zeichnet ein düsteres Bild von der nahenden Zukunft der Ukraine.

In einem Interview gegenüber dem Mailänder Tagblatt Corriere della Sera erklärt die Direktorin des Instituts für Demografie und Sozialstudien der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, dass ihren demografischen Berechnungen zufolge, die sich auf mehrere Parameter stützen, bisher rund 100.000 ukrainische Soldaten gefallen seien. Das eigentliche Schreckensszenario aber ist, dass vier Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit das gepeinigte Land nur mehr halb so viele Einwohner haben könnte. „Die einzige Hoffnung ist die Rückkehr derer, die geflohen sind“, so Ella Libanowa.

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Weniges wird von kriegführenden Parteien so geheim gehalten wie die Anzahl der eigenen Verluste. Die Gefallenenzahlen des Feindes aufzublähen und die eigenen zu verharmlosen, ist seit jeher Teil der Strategie von Staaten, die sich im Krieg befinden. Während es in früheren Zeiten noch schwierig war, die Zahl der Gefallenen auch nur annähernd zu bestimmen, erlaubt heutzutage der Vergleich verschiedener Parameter wie die Netzaktivität und die Smartphone-Nutzung von Personen mit der Anzahl der Bestattungen und eröffneten Erbschaftsverfahren, die Gefallenenzahlen recht genau abzuschätzen.

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„Da die offizielle Zahl der Toten geheim gehalten wird, müssen wir auf Schätzungen zurückgreifen. Um der tatsächlichen Anzahl möglichst nahezukommen, gleichen wir verschiedene Indikatoren wie die Zahl der Grenzübertritte und jene der verwendeten Smartphone-Sims untereinander ab. Um zu vermeiden, dass diejenigen, die einfach nur zwei Handys besitzen, als zwei Personen gezählt werden, klären wir die Zahlen mit Verfahren wie der Geolokalisierung ab. Unserer Schätzung zufolge, die sehr nahe an der Realität liegen dürfte, sind bisher leider bereits 100.000 ukrainische Soldaten im Krieg gefallen. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um junge Männer in ihrem produktivsten Lebensabschnitt“, rechnet die Demografin Ella Libanowa vor.

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Zu diesen – so die angesehene ukrainische Wirtschaftswissenschaftlerin und Demografin – seien noch die zivilen ukrainischen Kriegsopfer dazuzurechnen. Deren Zahl sei zwar geringer als jene der an der Front gefallenen Uniformierten, sie dürfte aber immer noch mehrere zehntausend Opfer betragen. Aus Sicht der Demografin Ella Libanowa sind die Zahlen der zivilen Opfer vor allem deshalb sehr schwer abzuschätzen, weil allein bei der Belagerung und Eroberung der Stadt Mariupol durch die russische Armee zehntausende Zivilisten ums Leben gekommen sein könnten. Da sie zur von Russland besetzen Hafenstadt keinen Zugang besitzen, ist es den ukrainischen Demografen unmöglich, die nötigen Nachforschungen zu betreiben.

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So schrecklich diese Zahlen aber auch sein mögen, so sind sie dennoch nicht die Hauptsorge der ukrainischen Wirtschaftswissenschaftlerin und Demografin. Ella Libanowas Blick senkt sich, wenn sie auf die Entvölkerung der Ukraine zu sprechen kommt.

„Wenn der Krieg noch ein Jahr fortdauert und erst im Jahr 2025 enden wird, werden im Jahr 2033 schätzungsweise nur mehr zwischen 26 und 32 Millionen Ukrainer im Land leben. Da es zu viele Variablen gibt, sind wir nicht imstande, diese Spanne näher einzugrenzen. Wie viele der Flüchtlinge und Emigranten werden aus dem Ausland zurückkehren? Wird es einen echten Frieden, Sicherheit und einen wirtschaftlichen Aufschwung geben? Diese Unbekannten, die Entscheidungen großer gesellschaftlicher Gruppen stark beeinflussen werden, sind allesamt nicht vorhersehbar“, betont die Demografin.

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„Im Jahr 1993, zwei Jahre nach der Auflösung der UdSSR, hatte die Ukraine 52,3 Millionen Einwohner. Der Geburtenrückgang und die Auswanderung – drei Millionen Menschen kehrten der Ukraine den Rücken gekehrt – setzten bereits viele Jahre vor Russlands Angriff auf die Ukraine ein. Die Fruchtbarkeitsrate lag im Jahr 2021 bei nur 1,2 Kindern pro Frau. Die demografische Krise betrifft zwar ganz Europa, aber in der Ukraine wurde sie durch den Krieg zu einer Tragödie. Im Jahr 2022 sank die Fruchtbarkeitsrate auf 0,9. Im nächsten Jahr erwarte ich, dass sie bei 0,7 liegen wird. Hinzu kommt, dass kriegsbedingt viele aus dem Land geflüchtet sind“, zeichnet Ella Libanowa ein wenig hoffnungsvolles Zukunftsszenario.

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Laut der ukrainischen Wirtschaftswissenschaftlerin und Demografin seien seit Februar 2022 vier Millionen ukrainische Flüchtlinge nach Festlandeuropa, 1,2 Millionen nach Russland und rund eine Million nach Großbritannien und in die USA geflohen. „Es handelt sich bei ihnen überwiegend um Frauen und Kinder. Da ihre Männer weit weg oder gefallen sind, werden sie zu den ukrainischen Geburten wenig beitragen können“, meint Ella Libanow.

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Die Demografin rechnet vor, dass die Ukraine die Hälfte seiner Bevölkerung verlieren könnte. „Die Altersgruppen, die durch die Kriegshandlungen am stärksten dezimiert wurden, sind leider genau diejenigen, die sich im reproduktiven Alter befinden. Dies wird sich auf Jahrzehnte hinaus auf die demografische Kurve auswirken. Die Zahl der Menschen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren wird unseren Berechnungen zufolge um 15 Prozent sinken. Die Anzahl der Frauen im fruchtbarsten Alter zwischen 20 und 34 Jahren hingegen wird um 11 Prozent abnehmen. Mit diesen Zahlen werden wir aus dem ‚demografischen Winter‘ nicht herauskommen“, legt Ella Libanowa ihre Zahlen auf den Tisch.

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Der einzige Lichtblick in diesem hoffnungslosen Szenario ist die Liebe der Ukrainer zu ihrem Land. „Die Ukrainer haben eine starke Bindung an ihr Heimatland. In den ersten Monaten des Krieges kamen zweihunderttausend Männer, die im Ausland waren, zurück, um an der Front zu kämpfen. Es ist zu erwarten, dass mit dem Frieden viele Kriegsflüchtlinge und Emigranten zurückkehren werden. Dafür müssen aber die Voraussetzungen geschaffen werden. Nur ein echter Frieden und ein wirtschaftlicher Neubeginn werden die neun Millionen Ukrainer, die sich im Ausland befinden, zur Rückkehr bewegen können“, erklärt die ukrainische Wirtschaftswissenschaftlerin und Demografin.

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„Siebzig Prozent der geflüchteten Frauen besitzt eine höhere Bildung, sie gehören zur Elite der Gesellschaft. Sollte der Krieg fortdauern, werden ihre Ehemänner zu ihnen ins Ausland ziehen und nicht sie zu ihnen zurückkehren. Über die Ukraine würde in diesem Fall eine tiefe Finsternis hereinbrechen“, warnt die Demografin.

Von: ka