Volkskrankheit, über die niemand reden will

“Ich kenne keine quälendere Erkrankung als eine Depression”

Freitag, 24. Februar 2017 | 08:05 Uhr

Bozen – Nichts geht mehr, die Gedanken kreisen endlos ohne Lösungsaussicht, alles ist mühsam, schwer und erscheint hoffnungslos. Eine Depression kann einen plötzlich und ohne Vorzeichen überrumpeln und aus der Bahn werfen. Sogar wenn gerade alles blendend läuft – niemand ist davor gefeit. Doch es gibt einige Dinge, die jeder machen kann, um diesem Zustand vorzubeugen.

Das Krankheitsbild der Depression wird oft auch als Volkskrankheit Nummer eins bezeichnet. Immerhin wird sie häufiger diagnostiziert als Herz-Kreislauferkrankungen oder Krebs. Für die Betroffenen bedeutet eine Depression unter Umständen der Beginn eines jahrelangen Leidenswegs.

Eines stimmt aber positiv: Die Prognose ist gut, besonders dann, wenn man sich professionelle Hilfe sucht und eine Therapie macht. In diesem Fall kann die Depression auch schon nach wenigen Wochen geheilt werden, ansonsten kann es auch oft zwei bis drei Jahre dauern, bis die Symptome wieder abklingen.

Südtirol News hat sich mit Dr. med. habil. Mario Horst Lanczik über das Thema Depression unterhalten. Der aus Bayern stammende Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie praktiziert seit 15 Jahren in Bozen und ist auch an der Marienklinik tätig gewesen.

 

stnews/luk
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Kommen Depressionen in Südtirol häufiger vor als anderswo?

Das werde ich oft gefragt und die Antwort darauf lautet: nein. Depressionen gibt es weltweit, in allen Kulturen und Religionen, egal ob reich oder arm. Man meint immer, Depression ist eine Wohlstandserkrankung, doch das stimmt nicht. In Kamerun in Zentralafrika, wo ich war, gibt es noch häufiger Depressionen, da es ganz andere Belastungsfaktoren gibt (Raub, Krieg, Gewalt). Die Erkrankung wird dort aber wegen des dürftigen Gesundheitssystems nur selten diagnostiziert.

Gibt es Vorzeichen für eine Depression?

Ja, Schlafstörungen. Sie sind für viele seelische Erkrankungen das erste Wetterleuchten. Bei Depressionen gibt es aber sehr spezifische Schlafstörungen, und zwar das morgendliche frühe Erwachen. Wenn man über mehrere Tage den Wecker um 7.00 Uhr stellt, aber schon um 4.00 Uhr aufwacht und dann nicht mehr einschlafen kann, ist das ein Vorzeichen. Auch dieses so genannte affektive Morgentief gilt als eindeutiges Depressionsvorzeichen. Es geht den Menschen dann morgens schlechter als nachmittags. Man kommt nicht in die Gänge. Das ist für die Depression, die durch Stoffwechselstörungen ausgelöstwird, sehr spezifisch. Bei den anderen Depressionsformen, bei denen die Krankheit durch äußere Probleme ausgelöst wird, hat man eher morgens mehr Hoffnung als abends.

Woran merkt man, ob jemand eine Depression hat?

Prinzipiell, wenn er anders ist, als sonst. Wenn sich etwa ein fröhlicher und kontaktfreudiger Mensch plötzlich anders verhält, wenn er sich zurückzieht, traurig ist, weniger isst, gar an Gewicht abnimmt, Zukunftsängste hat oder auf andere Weise unter sich selbst sehr leidet, dann sollten die Alarmglocken klingeln. Die Hauptsymptome der Depression sind Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit, Schuldgefühle oder das Gefühl, Ballast für andere zu sein. Man wird regelrecht von der eigenen Wahrnehmung getäuscht, denn es ist ja normalerweise nicht so.

Kann man aus heiterem Himmel an einer Depression erkranken?

Ja. Wir haben zwei große Gruppen von Depressionen: Es gibt Depressionen, die aus dem Nichts entstehen. Da besteht eine Stoffwechselstörung, die aus einer gewissen Veranlagung heraus zu erklären ist. Ausgelöst werden kann die Depression dann durch Stressfaktoren, wie etwa eine Grippe, die Kündigung am Arbeitsplatz, Partnerschaftskonflikten, Trennungen von lieben Menschen u. a. In diesem Fall zieht die Krankheit Probleme nach sich.

Aber auch in den Fällen, in denen die Depression nicht durch Probleme ausgelöst wird, kann die Depression zu Problemen führen, wie Arbeitsplatzverlust, Beziehungsstörungen usw.

Es ist dann die hohe Kunst des Arztes, diese beiden Formen zu unterscheiden und die richtige Behandlung zu wählen.

Welche Behandlungsmethode gibt es für die beiden Formen?

Bei jener Form, wo die Depression aus einer Veranlagung heraus entsteht – wo also der Stoffwechsel beeinträchtigt ist – steht eine biologische (medizinische) Behandlungsweise im Vordergrund. In diesen Fällen sollte der Patient auch psychotherapeutisch behandelt werden, z. B. auch mit Medikamenten.

Bei jenen Depressionen, wo äußere Trigger-Faktoren – also Konflikte und Probleme – zur Krankheit führen, steht die psychotherapeutische Betreuung im Vordergrund und die medikamentöse kann höchstens unterstützend eingesetzt werden.

Was ist eine Stoffwechselstörung bei Depressionen?

Genaues weiß die Wissenschaft nicht. Die Medikamente, die wir verschreiben, greifen aber in den Serotonin-, Dopamin-, Noradrenalin- und Kortisonhaushalt ein. Wenn man etwa Serotonin-Wiederaufnahmehemmer einnimmt, wirkt das Serotonin, das man vielleicht zu wenig hat, in den Gehirnarealen, die für Motivation und Antrieb zuständig sind, länger.

Nimmt man die Medikamente lange genug ein – was wichtig ist – dann vermehren sich die Rezeptoren und die Rezeptorempfindlichkeit nimmt zu. Das heißt, dass das Serotonin, das man zu wenig hat, zum Ausgleich länger wirken kann.

Kann man bei diesem Prozess etwas selbst begünstigen, um den Stoffwechselhaushalt aufzufüllen?

Unser Körper ist immer noch so gebaut wie in Zeiten, als wir Jäger, Sammler und Krieger waren, und auf Bewegung im Freien ausgelegt. Aus diesem Grund ist viel ausdauernde Bewegung bei Tageslicht optimal, um die natürlichen Botenstoffe im Gehirn zu fördern, die für Stimmung, Antrieb und Motivation zuständig sind. Das ist auch der Grund, warum unser Körper nach Sport verlangt.

Das heißt, genügend Licht und genügend Bewegung können vorbeugend helfen?

Richtig, und die entsprechende Veranlagung. Aber wenn man einmal in der Depression drin ist, reicht das nicht mehr alleine aus, kann aber unterstützend wirken.

Gibt es da noch was?

Menschen, die einen Hund haben, sind erfahrungsgemäß gesünder – seelisch und körperlich. Letztlich hat die Wissenschaft herausgefunden, dass es nicht unmittelbar am kuscheligen und süßen Vierbeiner liegt, sondern einfach daran, dass Hundebesitzer notgedrungen mit dem Tier ständig raus müssen und dadurch mehr Bewegung bei Tageslicht haben.

Wie verhält man sich, wenn jemand im Freundes- und Verwandtenkreis depressiv wird?

Es darf keine Verurteilung geben. Für eine Depression kann keiner dafür. Man sollte den betroffenen Menschen darauf ansprechen, sodass er sich verstanden und angenommen fühlt. Man darf eine Depression keinesfalls verharmlosen und sagen: „Ist ja alles halb so schlimm.“ Auch darf man nichts dramatisieren. Weder sollte man anfangen, zu heulen und alles negativ sehen, noch sollte man die Person überfordern, indem man sie auffordert, sich am Riemen zu reißen. Man sollte den Betroffenen aber dazu motivieren, sich Hilfe zu suchen.

Wie ist die Prognose bei einer Depression?

Ich kenne keine quälendere Erkrankung als eine Depression. Das Positive ist aber, dass die Prognose sehr günstig ist. Eine Depression klingt von alleine wieder ab, allerdings dauert das auch mehrere Jahre. Wer sich in Behandlung begibt, für den gibt es schon bald Erleichterung. Nach einigen Wochen sollte man aus dem Gröbsten wieder raus sein.

Gibt es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern?

Der Unterschied liegt in der Häufigkeit: 20 Prozent aller Männer haben sicher einmal im Leben eine depressive Phase, bei Frauen sind es 25 Prozent. Allerdings sind Frauen mutiger, gehen eher zum Arzt und lassen sich behandeln. Männer sind hingegen feiger: Wenn sie depressive Anzeichen bemerken, gehen sie ins Wirtshaus und betrinken sich, weil es ihnen dann stundenweise besser geht. Es droht aber dann die Gefahr, vom Alkohol abhängig zu werden und dass die Depression nur verschleiert wird. Mit der Emanzipation verschiebt sich dieses Verhältnis. Auch bei Frauen ist ein derartiges Verhalten mittlerweile öfter zu beobachten.

Welche Berufsgruppen sehen Sie am häufigsten in ihrer ärztlichen Praxis?

Prinzipiell alle. Öfters sehe ich aber Anwälte, Feuerwehrleute, Journalisten, Polizeioffiziere, Politiker oder Wirtschaftsprüfer. Sie haben alle gemeinsam, dass sie ehrgeizig sind und unregelmäßige Arbeitszeiten haben.

Manche Betroffene sehen aber keinen Ausweg mehr.

Das ist leider richtig. Wir haben in Südtirol die höchste Suizidrate Italiens. Vergleicht man aber die Suizidraten Südtirols mit den nördlichen Regionen (Nordtirol, Oberbayern), sind sie gleich hoch. Insofern ist es naheliegend, zu schauen, ob die Suizidraten je nach ethnischer Zugehörigkeit unterschiedlich ausfallen. Meiner Erfahrung nach ist dem so, wobei es mehr Suizide unter den Südtirolern deutscher Abstammung gibt. Dies ist einfach genetisch bedingt. Hier wäre es interessant, wenn es dazu mehr wissenschaftliche Untersuchungen geben würde.

Dr. Mario Horst Lanczik ist ein deutscher Arzt, Wissenschaftler, Psychiater und Psychotherapeut. In Darmstadt, Heidelberg, Regensburg und Würzburg studierte er Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaften und Medizin. Unter anderem war er an der Universität Erlangen und in Birmingham in England als Hochschullehrer tätig. 1998 gründete er die weltweit in Wissenschaftskreisen hoch angesehene Zeitschrift Archives of Women’s Mental Health und veranstaltete 2001 den ersten Weltkongress für die seelische Gesundheit von Frauen in Berlin. Als Sanitätsoffizier der Deutschen Bundeswehr war er im Rang eines Oberst u.a. in Afghanistan, Kosovo und Bosnien. Seit 2002 lebt Dr. Lanczik dauerhaft in Bozen und arbeitet als Arzt und Schriftsteller. In Kamerun und Äthiopien unterstützte er ärztlich die Südtiroler Ärzte für die Welt. Seine Reisen führten ihn rund um die ganze Welt in über 100 Länder.

Von: luk

Bezirk: Bozen