Fernunterricht: Belastung und Chance

Kinder sind individuelle und aktive Wesen

Freitag, 11. Dezember 2020 | 08:09 Uhr

Bozen – Kinder sind in der Schule oft frustriert, weil sie über- oder unterfordert sind. In Zeiten des Fernunterrichts stöhnen viele Eltern, dass ihr Kind die Aufgaben nicht alleine schafft. Wie Kinder am besten lernen und was ideale Lernbedingungen sind, erläutert die Erziehungswissenschaftlerin und Berufsberaterin Dr. Petra Tschenett.

Welches sind die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen?

Grundbedingungen einer jeden Erziehung sind Wertschätzung und Geborgenheit. Das fängt schon nach der Geburt an, wo in den ersten Monaten das so wichtige Urvertrauen, die sichere Bindung aufgebaut wird. Auch an den Lernorten wie Kita, Kindergarten, Schule müsste sich jedes Kind zuerst mal wohl fühlen können, da es sonst nicht die Gelassenheit hat, sich auf Neues einzulassen. Die Neugier bringt das Kind nämlich schon mit, denn jedes Kind will lernen. Dieses Gefühl ist auf jedem Fall die Voraussetzung dass erfolgreiches Lernen stattfinden kann.

Was hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert?

Früher zogen nicht nur die Eltern die Kinder auf, da gab es Großeltern, Tanten, Cousinen usw. Das ist heute nicht mehr der Fall. Das kann zur Überforderung der Eltern führen, was man gerade in der aktuellen Situation merkt und bis hin zur Vernachlässigung der Kinder gehen kann.

Entstehen da die Ängste der Kinder?

Viele Kinder haben schon früh Ängste, die meist aus der Angst vor Versagen entstehen. Jedes Kind weiß nämlich genau, was es kann oder nicht kann. Eltern und Lehrpersonen meinen aber oft, dass alle auf denselben Wissens- oder Leistungsstand gebracht werden müssen, unabhängig von der Individualität eines jeden Kindes. Existenzielle Ängste werden hervorgerufen durch Überforderung in der Schule und im Leben. Deshalb ist es wichtig die Individualität der Kinder ernst zu nehmen. Nicht alle sind gleich schnell in der Entwicklung und die ursprüngliche Verschiedenheit ist anzuerkennen, dazu gehören auch die Schwächen. Mit dieser Verschiedenheit oder Einzigartigkeit ist umzugehen und dann lässt sich auch aus Schwächen oft eine Stärke machen.

Wie sollte ideales Lernen aussehen?

Man darf Lernen nicht länger auf eine passiven Seite von Belehrung und auf das Erreichen von Standards reduzieren. Eltern und auch die Schule sollten den Kindern die Rahmenbedingungen zum Lernen anbieten. Das Kind soll aktiv handeln und Erfahrungen eigenständig machen können, bis es selbständig zum Ergebnis kommt. Man muss ihm die Möglichkeit bieten Erfahrungen zu machen, ohne es ständig zurechtzuweisen, es zu verbessern oder es vor Niederlagen bewahren wollen. Sie brauchen nur Kleinkinder beobachten, die mit Klötzen einen Turm aufbauen. Sie versuchen es so oft und wiederholen, bis der Turm steht. Ist das Interesse für eine Sache da, geben Kinder kaum auf, bis sie es beherrschen. Erwarten Erwachsene aber einen raschen Erfolg und es gelingt nicht, wird das Kind frustriert. Kinder können nur dann eigene Lernstrategien entwickeln, wenn man sie lässt. Klar, das indirekte Verhalten der Erzieherinnen und Erzieher erfordert viel Geduld.

Was soll das Ziel von Erziehung sein?

Ziel ist die Selbstbestimmung, die es ermöglicht ein eigenständiges Leben zu führen.

Den Fernunterricht im Lockdown sehen Sie auch als Chance?

Man soll fürs Leben lernen und jetzt ist der richtige Augenblick. Viele Eltern berichten, dass sie mit ihren Kindern kochen, im Garten arbeiten oder schneidern, das Kind mehr Verantwortung fürs Haustier übernimmt oder von sich aus anfängt etwas Neues zu lernen. Die (größeren) Schülerinnen und Schüler selbst üben sich während des Fernunterrichts in Zeitmanagement, Medienkompetenz und Selbstorganisation und finden dabei neue Lernmethoden. Manche können im Fernunterricht endlich zeigen, was sie drauf haben. Gerade schüchterne Schülerinnen und Schüler trauen sich ihr Wissen oft nicht vor der Klasse zu zeigen, jetzt aber, wo Vieles verschriftlicht wird, können sie ihre Leistungen offen darlegen, ohne als Streber bezeichnet zu werden. Auch bei kreativen Arbeiten kann sich jetzt jedes Kind so viel Zeit nehmen, wie es braucht oder gerade Lust hat, und ist nicht eingezwängt in starren Zeiten, die von der Schulglocke bestimmt werden.

Individuelle Entwicklung geht auch im Arbeitsleben weiter, oder?

Jeder sucht nach einer sinnvollen Beschäftigung. Sinnhaftigkeit ist für jeden anders. Eine sinnvolle Arbeit gibt eine Befriedigung. Das sieht man sehr häufig bei Handwerkern, die sehr stolz auf ihre erschaffenen Arbeiten sind. Denn der Mensch möchte etwas leisten. Problem ist heute und in der Zukunft sicher noch öfter, dass die Tätigkeit fremdbestimmt und sinnentleert ist.

Letzte Frage, wie findet man den geeigneten Beruf?

Um eine Entscheidung zu treffen, hilft es seine eigenen Stärken und Interessen zu kennen. Idealerweise beginnen Menschen schon früh mit der Suche. Die Jugendlichen sollten sich fragen, was ihnen Spaß macht und was sie besonders gut können. Welche Eigenschaften und Fähigkeiten ihnen am Interessensgebiet wichtig sind und sich daraus das Motiv erhellt, warum sie sich für eine Sache begeistern können. Bei der Erforschung der eigenen Talente geht es in erster Linie darum, ein Bewusstsein für sich selbst zu entwickeln. Auch etwas, wofür man sich gerade jetzt die Zeit nehmen könnte.

Von: mk

Bezirk: Bozen