Von: mk
Bozen – Günther hat für lange Zeit ein ganz normales Leben geführt und versucht, mit der Gesellschaft Schritt zu halten – bis er vor sieben Jahren eine radikale Kurskorrektur vorgenommen hat. 29 Jahre lang war er einer geregelten Arbeit nachgegangen, zuerst als Büroangestellter und dann als landwirtschaftlicher Arbeiter. Weil er sich wie in einer Schachtel eingesperrt fühlte, ließ er seine bürgerliche Existenz hinter sich und lebt seitdem von Almosen. Doch er gibt den Menschen auch etwas zurück, berichtet die Tageszeitung Alto Adige.
Im Jahr 2013 ist Günther aus dem „System“ ausgebrochen, wie er es beschreibt. Die heutige Gesellschaft sei immer mehr von Machthunger und Leistungsdruck bestimmt, weshalb er beschlossen habe, ein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu führen. „Ich war nicht mehr in der Lage, mit dieser hektischen Arbeitswelt Schritt zu halten. Also dachte ich mir: Entweder ich ziehe die Notbremse oder ich werde krank“, erklärt Günther laut Alto Adige.
Also hat er alles hinter sich gelassen und ist zuerst ins Trentino gegangen, dann in den Veneto, nach Frankreich und schließlich wieder zurück nach Südtirol. In Stenico im Trentino lebte er zwei Winter lang in einer Höhle. „Ich habe nicht improvisiert. Ich wusste, was nötig war, um in der freien Natur zu überleben“, erzählt er nicht ohne Stolz. Lange Zeit lebte er auch neben dem Schloss in Avio. Mit der lokalen Bevölkerung pflegte er ein gutes Verhältnis. Immer wieder hatte es Neugierige aus der Gegend zu ihm hingezogen.
Dann ist er nach Südtirol zurückgekehrt. Seit vier Jahren sucht er immer wieder die Parkbank auf der Talferbrücke auf – führ ihn ein „perfektes Gleichnis für das Leben“, wie er erklärt. „Die Menschen gehen vorbei, der Fluss fließt und ich bin umringt von Natur.“Auf dem Boden steht ein Glas, mit dem er Almosen sammelt. Wer ihm etwas Kleingeld überlässt, dem überlässt er ein paar Zeilen. Günther schreibt viel und er möchte jenen etwas geben, die ihr Herz am rechten Fleck haben.
Die Erinnerung an seine Zeit in der freien Natur erfüllt ihn mit Freude: „Es waren schöne Erfahrungen.“ Wegen eines gesundheitlichen Problems am Bein, musste er teilweise wieder „ins System“ zurückkehren. Acht Monate lang verbrachte er in einem städtischen Schlafsaal. Nun hat er ein kleines Zimmer gefunden und erklärt, es gehe ihm gut.
Zu Beginn des Lockdowns hat Günther beobachtet, wie sich die Straßen der Stadt leerten. „Die Leute konnten über ihr eigenes Leben nachdenken und darüber, was sie ändern möchten“, erklärt Günther. Dass die Menschen allmählich wieder im Stadtzentrum herumspazierten und langsam ihre Gewohnheiten wieder aufnahmen, erfüllte ihn mit Freude. „Manchmal sind die kleinen Dinge des Lebens befriedigender als die sogenannten großen Errungenschaften. Vielleicht ist der Mensch aufgrund des Coronavirus bescheidener geworden“, meint Günther.
Erst kürzlich hat er seinen 60. Geburtstag gefeiert. Günther glaubt, dass er früher oder später in die freie Natur zurückkehrt – möglicherweise auf die Hochebene in der „Comunità montana della Lessinia“ in der Provinz Verona – weil er den unbegrenzten Horizont genießt.