Auch Jugendliche sind gefährdet

Suizid: Reden rettet Leben

Mittwoch, 17. Mai 2017 | 12:00 Uhr

Bozen – 15 Jugendliche im Alter zwischen 16 und 22 Jahren haben in Südtirol in den vergangenen 15 Monaten Suizid begangen. „Vor allem junge Männer scheinen untereinander nicht darüber zu sprechen, viele wollen mit den Lehrern nicht reden, mit den Eltern können sie nicht“, erklärt Marlene Kranebitter, Psychologin, Vizedirektorin des Berufsschulzentrums Bruneck und Leiterin der Notfallseelsorge des Weißen Kreuzes, gegenüber dem Tagblatt Dolomiten.

Die Zahl bei den Erwachsenen, die diesen Weg wählen, ist noch höher. Im Durchschnitt nimmt sich jede Woche ein Südtiroler selbst das Leben. Dazu kommt eine Dunkelziffer, denn auch Verkehrs- oder Bergunfälle können versteckte Suizide sein.

Unter den 15 Jugendlichen war nur ein Mädchen. „Es ist wohl so, dass Mädchen eher miteinander über Persönliches reden. Junge Männer haben zwar eine Clique, da geht es dann aber um Motorräder oder die nächste Party“, erklärt Kranebitter gegenüber den „Dolomiten“.

Sie kannte vier der Jugendlichen persönlich, die Suizid als einzigen Ausweg gesehen haben. Wie ein Lauffeuer habe sich die Nachricht über die sozialen Netzwerke und WhatsApp verbreitet. „Wir arbeiten gerade mit den Klassenkameraden des jüngsten Opfers. Es zeichnet sich ab, dass vor allem die jungen Männer nicht wissen, wie es den anderen geht“, erklärt Kranebitter.

Man müsse die Jugendlichen animieren, miteinander zu reden, sich zu erzählen, wie es ihnen gehe, ist Kranebitter überzeugt. An der Hotelfachschule gebe es zwei große Chillräume, was sie gut findet. Die Schüler würden Karten spielen und in ihre Handys schauen. Aber es finde auch ein Austausch statt, betont die Psychologin.

Familienzeit sei ebenfalls wichtig. „Ich stelle fest, dass es allen Familienmitgliedern in dieser hektischen Zeit immer wichtiger zu sein scheint, Zeit zusammen zu verbringen“, betont Kranebitter laut „Dolomiten“. Ihr Vorschlag lautet: mindestens ein gemeinsames Essen pro Tag. „In meiner Familie haben wir das gemeinsame Frühstück durchgezogen“, erzählt sie. Gemeinsame Urlaube seien auch bei Teenagern etwas Besonderes. Zwingen sollte man aber niemanden dazu.

Kranebitter haben die Suizide vor allem im Raum Pustertal sehr betroffen. „Die Einführung von Schulpsychologen wäre sicherlich auch eine tolle Sache. So selbstverständlich man bei Grippe zum Hausarzt geht, so selbstverständlich sollte es werden, bei Problemen, die schwer wiegen, zum Psychologen zu gehen“, betont Kranebitter laut „Dolomiten“.

Die Gründe, die vor allem männliche Jugendliche in den Suizid treiben, sind vielfältig. „Sicherlich haben sie es sehr schwer, in der heutigen Gesellschaft in ihre Rolle zu finden: Ein Mann soll kein Weichei sein, aber auch kein Macho, er soll die Familie ernähren und einen guten Job haben, zugleich soll er aber auch Zeit für die Familie haben. Wer kann das schaffen?“, fragt Kranebitter im Gespräch mit den „Dolomiten“. Auch ein Mann, der nur zu Hause sei, müsse sich Kommentare anhören wie: „Bei dem daheim hat wohl die Frau die Hosen an.“

Durchschnitt sei auch nicht erlaubt: Im Sportverein oder in der Musikschule gebe es Konkurrenz und Leistungsabzeichen, bereits kleine Kinder müssten Spiele spielen, die frühkindliche Förderung beinhalten.

„Mit 16, 17 Jahren geht es weiter: Da darf man sich dann auch keinen Sommer einfach nur so vertreiben, ohne zu arbeiten. Da heißt es dann schon im Familienkreis: Du musst dich umschauen!“, sagt Kranebitter laut „Dolomiten“. Sie spricht sich deutlich für mehr Freiraum, Zeit zum Nichtstun und Zuhören aus.

Hilfe rund um die Uhr

Eine gute Anlaufstelle für Menschen in Suizidgefahr sind zu jeder Tages- und Nachtzeit die Notaufnahmen der Krankenhäuser Bozen, Meran, Brixen und Bruneck. Aber auch die Zentren Psychischer Gesundheit und Psychologischen Dienste des Sanitätsbetriebs, Hausärzte, privat arbeitende Psychiater und Psychologen können mit schweren seelische Krisen umgehen.

Telefonberatung gibt es von Young+Direct für junge Leute (Grüne Nummer 840 036 366; WhatsApp 345 0817 056; Mail: online@ young-direct.it; Facebook: Young+Direct Beratung Consulenza), von telefono amico (800 851 097) sowie von der Telefonseelsorge der Caritas rund um die Uhr (Tel: 840 000 481).

Beratung zur Teilnahme an Selbsthilfegruppen bieten die Selbsthilfevereinigung psychisch Kranker „Lichtung/Girasole“ (Tel. 0474/53 02 66) und der Verband der Angehörigen psychisch Kranker (Tel. 0471/26 03 03).

Angehörige von Suizidopfern haben oft unter Selbstvorwürfen, Schuldgefühlen und Scham zu leiden. Die Caritas-Hospizbewegung bietet deshalb auch für sie Begleitung an. Wer diese in Anspruch nehmen möchte oder Informationen sucht, kann sich an Caritas-Dienst (Tel. 0471/30 43 70; E-Mail: hospiz@caritas.bz.it) wenden.

Grüne Anfrage: Hilferuf der Helfer

Jüngste Interviews der Obfrau der Südtiroler Notfallpsychologie beim Weißen Kreuz und stellvertretende Schulleiterin, Marlene Kranebitter, machen betroffen. Dies erklären die Landtagsabgeordneten der Südtiroler Grünen, Riccardo Dello Sbarba, Brigitte Foppa und Hans Heiss

Die erfahrene, nicht zum Alarmismus neigende Psychologin habe nach mehreren Selbstmorden Jugendlicher in ihrem Einzugsgebiet im Eisack- bzw. Pustertal dringend zu neuen Wegen der Ursachenforschung und Prävention aufgerufen. Diskretes Schweigen helfe nicht mehr, die Omnipräsenz sozialer Medien mache Fälle rasch bekannt, mit unabsehbaren Folgen und Nachahm-Effekten, warnen die Grünen.

Zudem habe sich die soziale und existenzielle Situation Jugendlicher, zumal von Burschen, gegenüber jener vor zehn bis 15 Jahren stark gewandelt. Neben der Gefährdung Jugendlicher seien aber auch nicht ältere Personen außer acht zu lassen, die aufgrund stetig erhöhten Lebensalters und damit verbundener Beschwerden und Minderung von Lebensqualität gleichfalls wachsenden Risiken unterliegen.

Die Grünen richten folgende Anfrage an die Südtiroler Landesregierung: „Haben inzwischen Experten und soziale Organisationen in einem Hearing oder Informationsaustausch erste Diagnosen der Gesamtsituation erhoben? Wie lassen sich bislang bewährte Netzwerke und Strategien auf die neue Lage umstellen?“

Von: mk

Bezirk: Bozen