Von: mk
Bozen – Die Impfbereitschaft ist in Südtirol schwach ausgeprägt: Im Rahmen von fünf Studien hat das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen versucht, der Impfskepsis auf den Grund zu gehen. Auf dem Land, unter Personen mit schwächerem Bildungsniveau und in Haushalten mit kleinen Kindern wurde die Impfzögerlichkeit am deutlichsten festgestellt. Die Impfentscheidungen wurden von persönlichen, sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst. Aufklärung und Dialog können jedoch dazu beitragen, die Impfskepsis zu verringern.
Wann wurden die Studien durchgeführt?
Die fünf Studien des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen fußen auf Daten, die im März und April 2021 in Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Landesinstitut für Statistik ASTAT erhoben wurden. „Mehr als 4.000 volljährige Bürger:innen wurden zur Teilnahme an einer Online-Umfrage eingeladen“, erläutert Dr. Verena Barbieri, Biostatistikerin am Institut für Allgemeinmedizin. 1.425 Personen beteiligten sich an der Umfrage, das entspricht einer Rücklaufquote von rund 32 Prozent. „Die Ergebnisse können als Spiegelbild der Südtiroler Gesellschaft betrachtet werden, da das Statistikinstitut ASTAT mit qualifizierten Methoden eine Stichprobe der Bevölkerung ausgewählt hat, die der Südtiroler Gesamtbevölkerung bezüglich Alter, Geschlecht und Wohnsitzgemeinde entspricht. Um Auswahlfehler beim Rücklauf zu vermeiden, wurden die Ergebnisse bezüglich Staatsbürgerschaft, Alter, Geschlecht und Wohnsitzgemeinde nachgewichtet“, erklärt Barbieri. „Die Studien sind repräsentativ für unser Land“, so Dr. Barbieri.
Niedrige Impfrate
Im Vergleich zu anderen Regionen und Provinzen Italiens weist Südtirol eine niedrigere Impfrate auf – sowohl bei Impfungen gegen das Coronavirus als auch bei den Pflichtimpfungen und den empfohlenen Impfungen, bei welchen Südtirol weit unter dem gesamtstaatlichen Durchschnitt liegt. Zum Beispiel bei Kinderimpfungen: Hier lag die Impfquote 2021 italienweit bei ca. 94 Prozent, in Südtirol hingegen bei 71 bis 75 Prozent. Die Gründe hierfür sind vielschichtig und komplex. „Bei der Datenanalyse sind für uns neue Fragestellungen entstanden“, sagt Dr. Giuliano Piccoliori, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen.
„Wir wollten die Gründe für die Impfskepsis oder die Impfverweigerung, das Impfverhalten der Sprachgruppen, die Unterschiede zwischen Stadt und Land, den Zusammenhang zwischen einer altruistischen Einstellung und einigen Anti-Corona-Maßnahmen sowie die mögliche Rolle der Südtiroler Hausärztinnen und Hausärzte für das Überwinden der Impfzögerlichkeit besonders auf dem Land beleuchten“, so Dr. Piccoliori.
Die Auswertung der Impfstudien ergab fünf Kernaussagen:
1. Ländliche Gebiete: In Südtirols Landgemeinden kann eine stärkere Impfskepsis festgestellt werden als in den Städten. Dies könnte u.a. auf einen eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zurückzuführen sein.
2. Bildungsniveau und sozioökonomischer Status: Die Impfstudien haben ergeben, dass ländliche Bewohner seltener eine Hochschulbildung haben und öfter in Haushalten mit Kindern unter sechs Jahren leben. Darüber hinaus war ihre wirtschaftliche Situation nach der Corona-Pandemie schlechter als zuvor. Das wirkte sich negativ auf die COVID-19-Impfbereitschaft aus.
3. Mangelndes Vertrauen in Institutionen: Gerade in der ländlichen Bevölkerung Südtirols waren das Vertrauen in die Pandemie-Bewältigung seitens öffentlicher Gesundheitseinrichtungen und das Vertrauen in Südtiroler Behörden (Politik, Gesundheitsbetrieb, Bevölkerungsschutz) geringer ausgeprägt.
4. Kulturelle und sprachliche Faktoren: Ein weiterer Grund für die Impfskepsis könnte die sprachlich-kulturelle Zusammensetzung der Südtiroler Bevölkerung sein. Obwohl die Impfskepsis bei deutschsprachigen Südtirolerinnen udn Südtirolern stärker ausgeprägt ist als bei italienischsprachigen Bürgern, war die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe allein kein ausschlaggebender Grund für die Impfzögerlichkeit.
5. Persönliche Überzeugungen und Erfahrungen: Impfskeptiker berichten oft über negative Erfahrungen mit dem Südtiroler Gesundheitswesen und dem italienischen Staat. Das verstärkt ihr Misstrauen gegenüber diesen Institutionen. Natürliche Heilmethoden und Homöopathie werden von Impfskeptiker:innen hingegen mit positiven Erfahrungen assoziiert.
„Die niedrigen Impfraten in Südtirol wurden durch eine Kombination von Misstrauen gegenüber Politik und Sanitätsbetrieb, verbreiteten Fehlinformationen und wohl auch spezifischen kulturellen Unterschieden innerhalb der Gemeinschaft beeinflusst“, erläutert Prof. Dr. Christian Wiedermann, Koordinator der Forschungsprojekte des Instituts. „Im Vergleich zwischen Stadt und Land bestätigte sich eine höhere Impfbereitschaft in urbanen Gebieten, während unter den Sprachgruppen vor allem die deutschsprachige Bevölkerung eine niedrigere Impfrate aufwies. Das liegt nicht direkt an der Stadt oder der Sprache, sondern an auf dem Land und unter der deutschsprachigen Bevölkerung häufigeren Bedenken, z.B. historisch gewachsenes Misstrauen gegenüber den Anordnungen des italienischen Staates oder gegenüber dem Gesundheitssystem und den damit verbundenen Sichtweisen“, betont Prof. Wiedermann. Er hebt hervor, dass bei der Impfbereitschaft in einer der Studien der Altruismus bei jüngeren Menschen eine wichtige Rolle spielte: „Jüngere Menschen haben eine stärkere Gemeinschaftsorientierung und den Wunsch nach Schutz der Gesamtbevölkerung, während ältere Menschen aus diversen persönlichen Gründen die Impfungen befürworteten“, so Prof. Wiedermann.
Was denken impfskeptische Eltern?
Ein Teil der Studien wurde in Zusammenarbeit mit dem Forum Prävention durchgeführt. Im Rahmen dieser Untersuchung fanden ausführliche Tiefeninterviews mit einer gezielten Stichprobe impfskeptischer Eltern statt. Die Kinder der zehn Teilnehmenden waren entweder ungeimpft, teilweise geimpft oder so spät wie möglich geimpft. Nur ein erwachsener Teilnehmer hatte sich gegen COVID-19 impfen lassen. „Die Studie ergab, dass die sozialen Kreise der Teilnehmer:innen aus Personen mit ähnlichen Impfeinstellungen bestanden. Sie empfanden medizinisches Personal als einseitig und unkritisch. Ihres Erachtens sind die Eltern für das Wohlergehen ihrer Kinder verantwortlich, sie wehren sich daher vor ,Panikmache’ und staatlichen Eingriffen“, fasst Prof. Christian Wiedermann die Standpunkte impfkritischer Eltern zusammen. „Unsere qualitative Studie formuliert auf der Basis der analysierten Interviewergebnisse Empfehlungen, um das Vertrauen von impfskeptischen Südtiroler Eltern in den Gesundheitsbereich zu stärken“, erklärt Dr. Peter Koler, Direktor des Forums Prävention. „Zu unseren Empfehlungen gehören, dass Mitarbeiter:innen des Gesundheitswesens einen wertschätzenden Austausch mit Bürger:innen pflegen, spezifische Kommunikationskompetenzen anwenden und eine verständliche Informationsweitergabe zu Risiken und Nutzen von Impfungen anbieten. Dabei ist es wichtig, Hinweise auf mögliche Risiken und Nebenwirkungen von Impfungen breit und gleichwertig zu streuen. Von Vorteil wäre es auch, eine größtmögliche Flexibilität und Entscheidungsfreiheit anzubieten. So sollten Einzelimpfungen und in Ausnahmefällen verzögerte Impftermine ermöglicht werden“, sagt Dr. Peter Koler.
Wie soll mit Impfskeptikern und Impfgegnern kommuniziert werden?
„Impfskepsis ist an sich nicht schlecht oder gar ,verrückt’. Sie zeigt, dass jemand kritisch nachdenkt und sich legitime Fragen stellt, was in einem aufgeklärten Gespräch mit Fachleuten wertvolle Diskussionen fördern kann“, sagt Prof. Dr. Christian Wiedermann. Impfskepsis stelle eine große Herausforderung dar, sie müsse durch verbesserte Kommunikationsstrategien, aber auch durch den Aufbau von Vertrauen bewältigt werden. „Impfskeptiker sind nicht zwingend Impfgegner. Mit Impfgegnern einen Dialog zu führen, ist schwieriger, weil diese tief verwurzelte Überzeugungen haben, die nur schwer geändert werden können“, betont Dr. Giuliano Piccoliori, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts und Arzt für Allgemeinmedizin. „Für uns Hausärztinnen und Hausärzte, aber auch für die Kinderärztinnen und Kinderärzte ist es wichtig, eine Gesprächsbasis mit Impfgegnern zu finden, auf der ein Dialog aufgebaut werden kann, um ihren Anliegen vorurteilslos und ohne Konfrontation zu begegnen. Bei impfskeptischen und -zögerlichen Personen hingegen ist das Zuhören unerlässlich, damit diese all ihre Fragen, Gedanken, Sorgen und Zweifel offen mitteilen können“, unterstreicht Dr. Piccoliori. Hausärztinnen und Hausärzte bräuchten viel Empathie, um eine Beziehung des gegenseitigen Vertrauens zu ihren Patientinnen und Patienten aufzubauen. Es sei wichtig, allen Bürgern klare und verständliche Informationen zur Verfügung zu stellen, um dadurch Missverständnisse und Fake News vermeiden zu können, so Dr. Piccoliori. „Für Südtirols Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner sollten gezielte Schulungen organisiert werden, um sowohl die Beratungskompetenz zu erweitern als auch das Wissen zu vertiefen“, sagt Dr. Piccoliori.
Vier Empfehlungen
Aus den Studienergebnissen können zumindest vier Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, die die Impfbereitschaft der Südtiroler Bevölkerung erhöhen könnten:
Erstens: Das Gesundheitssystem sollte in gezielte Fortbildungen investieren, um die Impfkompetenz des Gesundheitspersonals zu erhöhen. Die Kommunikation mit den Patient:innen gilt es zu optimieren. Zweiter Punkt sind Aufklärung und Information: Allen Bürger:innen sollen leicht verständliche, auf Forschung basierende Informationen zu den Impfungen angeboten werden. Es soll auf eine Wertschätzung der persönlichen Entscheidungsfreiheit geachtet werden. Dazu gehört auch der Gedankenaustausch mit impfskeptischen Personen.
Drittens geht es um Vertrauensaufbau: Es ist wichtig, Strategien zu entwickeln, die das Vertrauen in die Institutionen und in das Gesundheitswesen stärken. Das könnte durch eine transparente und niederschwellige Kommunikation und durch das Einbeziehen der Bürger:innen in Entscheidungsprozesse erreicht werden. Viertens sollten kulturelle Unterschieden berücksichtigt wrden: Es ist sinnvoll, spezifische Kommunikationsstrategien zu entwickeln, die die Gesundheitsinformationen an die Bedürfnisse der Sprachgruppen und Kulturkontexte in Südtirol anpassen.
„Die Impfskepsis kann definitiv verringert werden – durch Information und Aufklärung, durch vertrauenswürdige Botschafter:innen und durch wissenschaftlich gesichertes Storytelling“, bilanziert Prof. Dr. Christian Wiedermann. „Zukünftige Aufgaben für uns sind daher das intensivere Bemühen um die Bekämpfung von Fehlinformationen, das Aufbauen von Vertrauen in öffentliche Gesundheitsbehörden und das Berücksichtigen der kulturellen Unterschiede bei Gesundheitskampagnen“, schlussfolgert Prof. Wiedermann.