30-Jährige machte in Bruneck Matura, nun muss sie nachts in den Keller

„Wir sind frei, das geht Putin auf die Eier“ – INTERVIEW

Sonntag, 27. Februar 2022 | 17:35 Uhr

Bruneck/Poltawa – Olga Faltynska lebt in Poltawa, eine Stadt mit 300.000 Einwohnern rund 100 Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt. Vier Jahr lang hat die 30-Jährige in ihrer Jugend die Oberschule in Bruneck besucht und dort auch Matura gemacht. Nun wird die gelernte Dolmetscherin und Managerin wie unzählige andere Menschen in der Ukraine Zeugin der russischen Invasion und kann mit ihrem einjährigen Sohn nicht fliehen. Im Interview mit Südtirol News appelliert sie an die NATO und an die EU.

Südtirol News: Wie geht es Ihnen derzeit?

Olga Faltynska: Hier in Poltawa ist es derzeit ruhig. Nur in der Umgebung hört man Schüsse. Heute in der Nacht mussten wir in den Keller. Um 3.00 Uhr in der Früh erklang die Sirene. Zum Glück wurden wir nicht bombardiert.

Haben Sie bereits russische Panzer gesehen?

Nein, ich habe ein kleines Kind. Mein Mann und mein Vater sind hingegen beim Zivilschutz tätig und unterstützen die Nationalpolizei. Sie patroulieren und haben bereits Panzer gesehen.

Haben Sie und ihre Familie jemals an Flucht gedacht?

Poltawa liegt rund 1.300 Kilometer von der Grenze nach Polen, Rumänien oder Moldawien entfernt. Der Weg dorthin ist sehr gefährlich. Menschen werden auf offener Straße einfach umgebracht. Freunde von mir sind schon vor Tagen aufgebrochen, haben aber erst jetzt die Grenze erreicht. Außerdem dürfen derzeit nur Frauen und Kinder das Land verlassen.

Sie haben aber auch persönlich einen Entschluss gefasst.

Wir flüchten nur, wenn die Ukraine nicht gewinnt. Wir werden nie unter russischer Macht leben.

Warum nicht?

Wir kennen Menschen, die in Russland waren. Das ist kein richtiges Leben dort. Es gibt kein Recht, keine Gesetze. Du weißt nie, was dir passieren wird. Wir sind hingegen frei. Wir dürfen reden, wie wir wollen. Wir dürfen auch schlecht über unseren Präsidenten sprechen, wenn er es verdient. In Russland ist das nicht möglich.

Im Ausland hat man den Eindruck, dass sich die Ukraine sehr tapfer schlägt.

Unsere Armee kämpft sehr stark. Das hat Russland nicht erwartet. Dabei hat man wohl die Geschichte etwas aus den Augen verloren. 2014 haben unsere Leute in Kiew ohne Waffen nur mit Steinen und Geräten gewonnen. Wir Ukrainer sind sehr vereint, wenn es ein Problem für das Land gibt. Putin hat lange versucht, diese Einigkeit zu untergraben. Doch das ist ihm nicht gelungen. Ich habe Freunde, die mit mir Russisch sprechen und ich antworte auf Ukrainisch. Es hat nie ein Problem gegeben.

Was will Putin ihrer Meinung nach?

Putin will das Land besiegen, weil er ein Imperium aufbauen möchte, ähnlich wie die Sowjetunion. Doch das ist nicht der einzige Grund: Viele Familien haben Verwandte in Russland, meine Cousine wohnt etwa in Moskau. Unsere Verwandten wissen, wie wir hier leben, dass wir hier frei sind. Die Menschen in Russland fragen sich, warum sie das nicht dürfen. Warum gibt es bei ihnen keine importierten Lebensmittel? Putin verliert so an Macht. Auch historisch gesehen spielte die Ukraine ein wichtige Rolle – etwa in der Kiewer Rus (auch Altrussland genannt: Dabei handelt es sich um ein ein mittelalterliches altostslawisches Großreich, das als Vorläuferstaat von Russland, der Ukraine und Belarus angesehen wird, Anm). Dass Putin eine Osterweiterung der NATO verhindern will, ist nur ein zweitrangiges Motiv.

Was könnte sonst noch dahinter stecken?

Putin hat dafür gesorgt, dass etwa in Weißrussland oder in Kasachstan wieder Ruhe einkehrt. 2014 ist ihm das in der Ukraine nicht geglückt. Das geht ihm schlichtweg auf die Eier, wenn ich das so sagen darf. Dann hat er sich die Krim geholt.

Bei den Russen und den Ukrainern spricht man immer wieder von Brüdervölkern. Haben sich die Beziehungen nun verschlechtert?

Die Beziehungen haben sich seit 2014 verschlechtert. Es gibt zwar einen Austausch durch Verwandte. Doch im Grunde handelt es sich um zwei verschiedenen Mentalitäten, vor allem wenn es um Menschen geht, die nicht in Moskau oder St. Petersburg leben. Die Menschen sind sehr arm, sie reisen nie. Viele haben nie kritisches Denken gelernt. Bei uns haben viele eine Ausbildung und Auslandserfahrung. Es tut mir leid um diese Menschen, weil sie Angst haben. Auch der Wodka-Konsum ist ein Problem. Viele trinken zu viel, um die Wahrheit zu sehen.

Wie geht es ihrer Meinung nach nun weiter?

Unsere Armee kämpft heftig. Wir kämpfen nicht nur für unsere Freiheit in der Ukraine, wir kämpfen für die gesamte europäische Union. Wir sind sehr optimistisch, doch wir sind auch sehr enttäuscht von der NATO und der EU.

Warum?

Die Ukraine hat auf Atombomben verzichtet und im Gegenzug das Versprechen erhalten, dass dem Land im Fall einer Invasion militärische Hilfe erhält. Stattdessen gibt es nur Sanktionen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wie auch unser Präsident sagt, sind wir für jede Art von Hilfe dankbar. Auf dem Boden wird unsere Armee mit den russischen Truppen alleine fertig. Bei Luftangriffen schaut es anders aus. Hier braucht die Ukraine Hilfe.

Putin droht allerdings mit Atomwaffen. Was sagen Sie dazu?

Das ist sicher schwierig. Allerdings muss einem klar sein: Putin wird nicht genug haben. Russland wird nicht aufhören, sich weitere Gebiete einzuverleiben – auch solche, die zur NATO gehören. Wobei ich sagen muss: Zwischen uns und anderen Europäern besteht kein Unterschied. Ich habe in Südtirol und in Italien gelebt und mich wie zu Hause gefühlt. Ich möchte an das Versprechen erinnern, das der Ukraine gegeben wurde.

Von: mk

Bezirk: Pustertal