Verheerende Fehler forderten Tausende Todesopfer – VIDEO

“Das Virus war bereits Anfang Februar im Umlauf”

Montag, 06. März 2023 | 08:05 Uhr

Bergamo – Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von Bergamo, die im Zusammenhang mit der nicht erfolgten Ausrufung einer „Roten Zone“ um die Corona-Hotspots Alzano Lombardo und Nembro in die Wege geleitet worden waren, förderten nicht nur die praktische Gewissheit einer frühen Verbreitung des Coronavirus zutage, sondern bestätigten auch die bereits vor zweieinhalb Jahren gehegte Vermutung, dass die rechtzeitige Schaffung einer „Roten Zone“ Tausende von Menschenleben gerettet hätte.

ANSA/ANDREA FASANI

Die Ermittlungen ergaben, dass die Epidemie in ihrer Frühphase nicht nur nicht erkannt, sondern in der Folge auch vollkommen unterschätzt worden war. Eine ganze Reihe von Versäumnissen und Fehlentscheidungen war dann ab Ende Februar in eine Katastrophe mit Tausenden von Toten gemündet.

Fast drei Jahre nach dem Ausbruch der Pandemie schloss die Staatsanwaltschaft von Bergamo ihre Ermittlungen im Zusammenhang mit der nicht erfolgten Schaffung einer „Roten Zone“ in der unteren Val Seriana um die Gemeinden Alzano Lombardo und Nembro ab. Zwischen Ärzten, Behördenvertretern und Politikern wurden 19 Personen in das Ermittlungsregister eingetragen, darunter der ehemalige Ministerpräsident Giuseppe Conte, der damalige Gesundheitsminister Roberto Speranza und der Präsident der Region Lombardei, Attilio Fontana.

Nach der nicht erfolgten Schaffung einer „Roten Zone“ in der unteren Val Seriana um die Gemeinden Alzano Lombardo und Nembro und der folgenden Coronakatastrophe von Bergamo hatten sich die römische Regierung und die Regionalregierung der Lombardei jahrelang gegenseitig die Verantwortung für diesen schwerwiegenden Fehler zugeschoben. Die Staatsanwaltschaft von Bergamo kam nun zum Schluss, dass für diese verheerende Fehlentscheidung sowohl Rom als auch Mailand Verantwortung tragen.

APA/APA (AFP)/PIERO CRUCIATTI

Um die Geschehnisse aufzuklären, bat die Staatsanwaltschaft während der monatelangen Ermittlungen den Mikrobiologen Andrea Crisanti, eine Sachverständigenexpertise zu erstellen.

Der international anerkannte Experte kommt zum Schluss, dass das Virus bereits am 4. Februar, also drei Wochen vor dem ersten offiziell gemeldeten Coronafall in der Provinz Bergamo, im Bezirkskrankenhaus von Alzano Lombardo im Umlauf war. Das bedeutet, dass der Coronafall von Alzano mehr als zwei Wochen älter war als jener des offiziellen italienischen Patienten 1, der im Krankenhaus von Codogno in der Provinz Lodi diagnostiziert wurde.

ANSA/Tiziano Manzoni

Das Virus soll einigen Indizien zufolge bereits lange davor schon zirkuliert sein. Bereits ab Ende November, als der neue, unbekannte Erreger, der die Lungen angreift, noch nicht einmal in Wuhan in China einen Namen besaß, wurde im Bezirkskrankenhaus von Alzano Lombardo eine massiv erhöhte Anzahl von „atypischen und nicht klassifizierbaren Lungenentzündungen“ registriert. Ende Dezember befanden sich allein im kleinen Bezirkskrankenhaus nicht weniger als 40 stationär aufgenommene Patienten, die Symptome einer „Lungenentzündung unbekannter Genese“ aufwiesen.

ANSA/MATTEO BAZZI

Die Dunkelziffer war vermutlich noch höher. Die Hausärzte der Val Seriana, zu der Alzano und Nembro gehören, beobachteten ebenfalls eine Häufung „abnormaler Lungenentzündungen“. Als die ersten Hiobsbotschaften aus China eintrafen, hegten die Basismediziner den Verdacht, dass es sich bei ihren Fällen ebenfalls um Covid-19 handeln könnte.

ANSA/NICOLA FOSSELLA/Andrea Crisanti

Im Einzelnen heißt es in dem Bericht, dass drei infizierte Patienten in der medizinischen Abteilung im dritten Stock und einer in der Abteilung im zweiten Stock des Bezirkskrankenhauses untergebracht waren. Alle vier Patienten zeigten das mit einer SARS-CoV-2-Infektion vereinbare klinische Bild. Die erfolgte Infektion durch das Coronavirus wurde später bei allen vier durch einen molekularen Abstrich bestätigt.

Die Schlussfolgerungen, die Andrea Crisanti zieht, sind sehr schwerwiegend. Wenn, wie eindeutig durch Laboranalysen bestätigt, das Virus bereits Anfang Februar 2020 im Krankenhaus von Alzano im Umlauf war, bedeutet das, dass der 28. Februar 2020 jener Tag war, an dem es für Italien kein Zurück mehr gab. Der Mikrobiologe weist nämlich darauf hin, dass Italien Ende Februar nicht mehr in der Lage war, die Coronapandemie in ihrer Frühphase erfolgreich einzudämmen. „Anstatt in der Val Seriana sinnvollerweise eine ‚Rote Zone‘ zu schaffen, hat das Technisch-Wissenschaftliche Komitee darauf vertraut, einem sich exponentiell ausbreitenden Virus nur mit verhältnismäßig geringen Maßnahmen begegnen zu können“, so Andrea Crisanti in seiner Expertise. Ab Ende Februar hatte dem Bericht zufolge Italien keine Chance mehr, die Pandemie einzugrenzen.

Obwohl bei Lodi bereits am 23. Februar eine „Rote Zone“ geschaffen worden war, wurde sowohl in Rom als auch in der Mailänder Regionalregierung zu lange gezögert. Das Technisch-Wissenschaftliche Komitee der römischen Regierung schlug erst am 3. März vor, die Corona-Hotspots Alzano Lombardo und Nembro abzusperren. Der damalige Gesundheitsminister Roberto Speranza unterzeichnete das Dekret, der damalige Ministerpräsident Giuseppe Conte hingegen nicht.

Infolgedessen wurden gegen Giuseppe Conte Ermittlungen eingeleitet. Speranza hingegen geriet in das Visier der Ermittler, weil der italienische Pandemieplan seit dem Jahr 2006 nicht mehr erneuert worden war. Der damalige Regierungschef Conte verteidigte sich stets mit dem Argument, dass er sich angesichts der Ausbreitung des Virus die Zeit genommen habe, am 8. März die gesamte Lombardei zu schließen.

Schade nur, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits lange schon zu spät war. Wäre die „Rote Zone“ bereits am 27. Februar oder wenigstens am 3. März 2020 geschaffen worden, hätten laut der gemeinsamen Berechnung des Mikrobiologen Andrea Crisanti, des Gerichtsmediziners Ernesto D’Aloja und des ehemaligen Direktors der lokalen Gesundheitsbehörde von Pavia, Daniele Donati, jeweils 4.148 und 2.659 Menschenleben gerettet werden können.

Von: ka