Mehrere Millionen Euro Schadenersatz gefordert – VIDEO

Falscher „Gynäkologe“: Neugeborenes schwerstbehindert

Donnerstag, 29. Dezember 2022 | 08:04 Uhr

Dolo/Venedig – Die Staatsanwaltschaft von Venedig ermittelt in einem sehr traurigen und nachdenklich stimmenden Fall, der auf das Versagen gleich mehrerer Institutionen zurückzuführen ist.

Durch den fatalen Fehler eines falschen „Gynäkologen“, der nie einen medizinischen Fachabschluss erworben hatte, wurde ein Neugeborenes zu 100 Prozent Vollinvalide. Der vor drei Jahren erfolgte Tod des falschen „Gynäkologen“ führte zwar dazu, dass alle strafrechtlichen Verfahren gegen ihn archiviert werden mussten, aber die Familie des schwerstbehinderten Buben, die Gerechtigkeit fordert, ist nicht Willens aufzugeben. Es geht um einen Schadenersatz von mehreren Millionen Euro.

Obwohl Andrea Stampini nie einen medizinischen Fachabschluss erworben hatte – er besaß lediglich ein Diplom als Geometer – gelang es ihm 40 Jahre lang, als Arzt zu praktizieren. Der Mann, der sich als „Gynäkologe“ ausgab, starb im Alter von 69 Jahren an den Folgen einer Krankheit. Sein Tod hatte zur Folge, dass alle im Zusammenhang mit einer Geburt gegen ihn eröffneten Strafverfahren archiviert werden mussten.

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Der fatale Fehler geschah bei der Geburt eines heute acht Jahre alten Buben am 26. Dezember 2014 im Krankenhaus von Dolo bei Venedig. Nach den Ermittlungen des Staatsanwalts Giorgio Gava soll Stampini für eine sogenannte perinatale Asphyxie – eine unzureichende Sauerstoffzufuhr eines Neugeborenen im Rahmen der Geburt – verantwortlich gewesen sein. Der falsche „Gynäkologe“, der damals für eine Firma – die Efds Srl – arbeitete, die Krankenhäusern Ärzte für Schichtdienste in Bettenabteilungen zur Verfügung stellte, befand sich während dieser Geburt in der Abteilung im Dienst.

Die perinatale Asphyxie soll aufgetreten sein, als Stampini, der die Notwendigkeit eines Kaiserschnitts ignorierte, das Kind mit einer Saugglocke und mit als unzureichend erachteten Manövern aus der Gebärmutter der Mutter herauszog. Dadurch blieb das Neugeborene sehr lange Zeit ohne Sauerstoff, wodurch es sehr schwere neurologische Schäden erlitt. Der Bub, der heute acht Jahre alt ist, ist schwerstbehindert und zu 100 Prozent Vollinvalide.

APA/APA/ZB/dpa/Arno Burgi/Arno Burgi

Seit der Geburt des Kindes hörten seine Eltern nie auf, Gerechtigkeit zu fordern. Nach dem todesbedingten Erlöschen des Strafverfahrens gegen den „Gynäkologen“, beschlossen sie, gegen den lokalen Sanitätsbetrieb, zu dem das Krankenhaus von Dolo gehört – die Usl 3 – Zivilklage zu erheben. Um den entstandenen Schaden für die Eltern und das Kind feststellen und bewerten zu können, wird die Zivilrichterin Silvia Franzoso am kommenden 19. Januar den Gerichtsmediziner Antonello Cirnelli und den Gynäkologen Jacopo Dal Maso mit einer fachmedizinischen Untersuchung beauftragen.

Auch die Usl 3 bleib nicht untätig. Sowohl der Arbeitgeber des Verstorbenen – die Firma Efds Srl – als auch die Ärztekammer von Ferrara, bei der Andrea Stampini als „Arzt“ eingetragen war, sowie die Erben des Verstorbenen und die drei Versicherungsgesellschaften wurden vom lokalen Sanitätsbetrieb verklagt. Eine genaue Bewertung des entstandenen Schadens steht zwar noch aus, er dürfte aber in die Millionen gehen.

„Der Sanitätsbetrieb steht der Familie zur Seite. In Erwartung der Bezifferung der genauen Höhe des Schadens, der im Rahmen des Zivilprozesses erfolgen wird, und um es der Familie zu ermöglichen, in der Zwischenzeit die Kosten für die Pflege ihres Sohnes tragen zu können, hat der Betrieb im Jahr 2019 der Familie einen erheblichen Entschädigungsvorschuss gewährt“, so die Direktion des lokalen Sanitätsbetriebs Usl 3. Es handelt sich um einen Vorschuss in der Höhe von rund 850.000 Euro, der bereits von der lokalen Gesundheitseinheit Serenissima gezahlt wurde.

Aber gleich wie hoch der Schadenersatz ausfallen wird, so kann doch kein Gericht der Welt dem kleinen Buben ein normales Leben und der Familie ihr Familienglück zurückbringen. Die gerichtliche Vorladung enthält eine umfangreiche Liste von Ausgaben, die die beiden Elternteile zur Bewältigung der Gesundheitsprobleme des Kindes aufbringen müssen. Sie beginnen mit einem eigens dafür errichteten Haus und enden mit der Rund-um-die-Uhr-Betreuung für den Kleinen. Durch die Behinderung des Buben war die Mutter sogar dazu gezwungen, ihre Stelle zu kündigen. Drei weitere Personen helfen der Familie dabei, dem Buben zu jeder Tages- und Nachtzeit eine angemessene Betreuung zu gewährleisten.

Der mutmaßliche Hauptverantwortliche ist tot, aber nicht nur die Familie des Achtjährigen, sondern auch viele Italiener wollen wissen, wie es sein konnte, dass sich ein Geometer jahrzehntelang erfolgreich als „Gynäkologe“ ausgeben konnte, ohne jemals ein medizinisches Studium und die entsprechende Fachausbildung abgeschlossen zu haben.

 

Von: ka