Von: ka
Kiew/Moskau/Rom/Macherio in Brianza – Der Investigativjournalist Federico Fubini deckte eine unglaubliche Spionagegeschichte auf, deren Hauptdarsteller die „unsichtbare” russische Rakete Iskander-M, der Sicherheitsrat der Ukraine und ein italienisches Unternehmen sind.
Da Russland selbst nur sehr geringe Mengen des für die Herstellung der Rakete notwendigen Flüssigklebers aus Epoxidharzen produziert, machten sich die ukrainischen Geheimdienste auf die Suche nach den Verkäufern dieser Epoxidharze. Fündig wurden sie nicht nur in China, sondern auch in Italien.
Die russischen Luftangriffe, die fast jede Nacht stattfinden und an denen nicht selten Hunderte von Kamikaze-Drohnen und Dutzende von ballistischen Raketen beteiligt sind, bringen die leidgeplagte Ukraine immer stärker in Bedrängnis. Die Angriffe kosten nicht „nur” Menschenleben, sondern zerstören auch wichtige zivile und militärische Infrastrukturen wie Kraftwerke, Industriebetriebe, Bahnhöfe, Flugplätze und Brücken. Dadurch werden die Kriegswirtschaft und die Verteidigungsfähigkeit des um sein Überleben kämpfenden Landes nachhaltig geschwächt.
Zu allem Überdruss produziert die russische Rüstungsindustrie nicht nur immer größere Stückzahlen von Kamikazedrohnen und Raketen, sondern entwickelt sie auch ständig weiter, sodass sie immer zielsicherer und schwerer abzuwehren sind.
Die russischen Raketen sind inzwischen so weit fortgeschritten, dass die ukrainische Luftabwehr im September lediglich sechs Prozent der etwa dreißig abgefeuerten ballistischen Raketen abfangen konnte. Die vielleicht gefährlichste dieser hochmodernen Raketen ist die Iskander-M: ein ballistischer Flugkörper mit einer Reichweite von 500 Kilometern, einer Geschwindigkeit von 800 Metern pro Sekunde und einem hochwirksamen Sprengkopf, der von Feststofftreibstoff angetrieben wird. Die Rakete kann unvorhersehbare Manöver ausführen, was selbst den leistungsfähigen amerikanischen Patriot-Raketen das Abfangen stark erschwert.
Da die Iskander-M als die gefährlichste Waffe Russlands gilt, arbeiteten die ukrainischen Sicherheitsdienste monatelang daran, das Geheimnis ihrer Hochwirksamkeit zu lüften. Dabei wurde jede Komponente der Iskander-M untersucht. Am Ende kam der ukrainische Geheimdienst zu einem Ergebnis, das auch Italien und die widersprüchlichen Russlandsanktionen der Europäischen Union betrifft.
Das „Geheimnis“ der Iskander-M ist, dass sie zu einem großen Teil aus Kohlenstofffasern besteht, einem Material, das auch im zivilen Bereich weit verbreitet ist. Die Antriebseinheit der ballistischen Rakete ist von einem Gehäuse aus Kohlefasern umgeben. Auch der hintere Konus, aus dem Hitze von drei- bis viertausend Grad Celsius austritt, besteht aus diesem Material. Diese Hitze wird freigesetzt, um Überschallgeschwindigkeiten von bis zu 2.100 Metern pro Sekunde zu erreichen. Kohlefaser ist vor allem durch ihre Verwendung in der Luft- und Raumfahrt sowie in Autos, Luxusfahrrädern und Windkraftanlagen bekannt. Sie weist einzigartige Eigenschaften auf: Sie ist 80 Prozent steifer, 30 Prozent robuster und leichter als jede Metalllegierung. Dieses Material ist jedoch auch doppelt so temperaturbeständig wie Stahl und besitzt die Eigenschaft, Radarwellen zu absorbieren. Dadurch erhöht sich die Fähigkeit der Rakete, so lange unentdeckt zu bleiben, bis es zu spät ist, sie abzufangen.
Ohne Kohlefaser besäße die Iskander-M nicht jene Eigenschaften, die sie nahezu unabschießbar und so zerstörerisch machen. Kohlefaser ist daher von strategischer Bedeutung. Russland ist in der Lage, sie ähnlich wie synthetische Textilfasern herzustellen. Dem militärisch-industriellen Komplex in Moskau fehlt jedoch ein grundlegender Teil der Produktionskette: Er stellt zu wenig des flüssigen Klebstoffs her, der die Kohlefaser imprägniert und ihr durch seine irreversible Aushärtung unter Hitzeeinwirkung jene Eigenschaften verleiht, die die Iskander-M zu einer gefürchteten Waffe machen. Dieser Klebstoff wird aus komplexen chemischen Grundstoffen, den sogenannten Epoxidharzen, hergestellt. Russland produziert jedoch nur 1,5 Prozent seines Bedarfs. Hier verbirgt sich ein entscheidendes Glied in der militärisch-industriellen Kette.
Aus diesem Grund hat der ukrainische Geheimdienst Exporteure von Epoxidharzen nach Russland ermittelt. Die Analysten des Kiewer Sicherheitsrats für Wirtschaft prüften Tausende von Einträgen in den internationalen Handelsregistern unter dem Zollcode „HS 3907300009” für Epoxidharze. Sie kamen zu dem Schluss, dass China mit 42 Prozent der Importe im vergangenen Jahr der mit Abstand größte Lieferant dieses Produkts nach Russland war.
Überraschender war jedoch, dass Italien mit einem Anteil von 21 Prozent an den Gesamtimporten dieses Materials durch Russland im Zeitraum zwischen Januar und September 2024 der größte europäische und nach China der zweitgrößte weltweite Lieferant von Epoxidharzen war. Auch in den ersten beiden Monaten dieses Jahres gab es etwa zehn Lieferungen mit beträchtlichen Mengen.
Den ukrainischen Behörden zufolge gibt es nur einen Lieferanten: das Grundchemieunternehmen Sir Industriale mit etwa zweihundert Mitarbeitern und Sitz in Macherio in Brianza. Zu den russischen Abnehmern zählen dem Rat für wirtschaftliche Sicherheit der Ukraine zufolge mehrere Unternehmen der russischen Rüstungsindustrie, darunter das für die Iskander-M-Rakete zuständige Konstruktionsbüro.
Wie der Investigativjournalist Federico Fubini ermitteln konnte, fanden Hunderte von Chemikalienlieferungen von Sir Industriale statt, darunter 71 Lieferungen von Epoxidharzen. Diese gingen größtenteils an die von den Ukrainern ermittelten russischen Unternehmen. Einige weitere Lieferungen stammten ebenfalls aus diesem Unternehmen, wurden aber über eine polnische Firma abgewickelt und ebenfalls an dieselben russischen Kunden geliefert.
Als Federico Fubini den Geschäftsführer von Sir Industriale, Marco Bencini, auf die Exporte von Epoxidharzen seines Unternehmens nach Russland und deren potenziell militärische Verwendung bei der Herstellung von ballistischen Raketen ansprach, teilte dieser mit, dass es weder ein Lieferverbot für Epoxidharze nach Russland gebe, noch eine Verpflichtung, die eigenen Geschäftspartner beim Handel mit diesen Produkten zu überprüfen.
Unglaublich, aber wahr: Sanktionen für Epoxidharze traten erst am 20. Juli dieses Jahres in Kraft – nach dreieinhalb Jahren Krieg. Folglich ist es europäischen Unternehmen noch eine Woche lang möglich, Verträge zu erfüllen und diese Produkte nach Russland zu liefern – unabhängig davon, welche Auswirkungen dies auf die Ukraine haben mag. Die Exporte von Sir Industriale nach Russland waren demnach vollkommen legal. Bencini behauptet darüber hinaus, dass er in den Jahren des Handels niemals Grauzonen in den Tätigkeiten seiner russischen Geschäftspartner wahrgenommen habe und „nach bestem Wissen und Gewissen“ gehandelt habe. Der Geschäftsführer von Sir Industriale betont zudem, dass die von seinem Unternehmen nach Russland exportierten Epoxidharze aufgrund ihres hohen Molekulargewichts ausschließlich für die Farben- und Konservenindustrie geeignet sind.
Die vom Investigativjournalisten eingesehenen Einträge aus der Datenbank des russischen Importregisters des Unternehmens aus der Brianza scheinen ein anderes Bild zu vermitteln. In den Fällen, in denen der Zustand des Materials angegeben ist und die Datenbank korrekt ist, wurden im Jahr 2024 von Sir Industriale 232 Tonnen Epoxidharze in flüssigem Zustand nach Russland geliefert. Diese können zur Verfestigung von Kohlefasern verwendet werden, wie es unter anderem bei den Iskander-M-Raketen der Fall ist. Es gab 18 Lieferungen von flüssigem Harz von Sir Industriale nach Russland zu einem Durchschnittspreis von knapp 30.000 Dollar pro Tonne. Das entspricht allein im Jahr 2024 einem Umsatz von etwas mehr als einer halben Million Euro.
Die Moral dieser unglaublichen Geschichte ist wohl, dass es keine gibt. Es gibt keine Beweise dafür, dass Sir Industriale an dem Programm für die Iskander-M mitgearbeitet hat, geschweige denn bewusst. Das Unternehmen hat, wie der Investigativjournalist Federico Fubini betont, nicht gegen das Gesetz verstoßen. Selbst wenn es bis nächsten Montag im Rahmen bereits seit Juli bestehender Verträge große Mengen an Harzen liefern würde, die für den Bau dieser Rakete benötigt werden, würde es nicht dagegen verstoßen. Sir Industriale ist eines von vielen Unternehmen, die seit langem Beziehungen zu Russland unterhalten und diese dank der bürokratischen Langsamkeit und Kurzsichtigkeit der europäischen Sanktionen auch weiterhin pflegen. Jahrelang war es etwa verboten, Designerbekleidung nach Russland zu exportieren, aber nicht Komponenten, die in eine tödliche Waffe eingebaut werden können.
Olena Yurchenko vom ukrainischen Sicherheitsrat stellt fest, dass die Europäische Union bislang keine Sanktionen gegen russische Unternehmen der Iskander-M-Produktionskette oder gegen Materialien aus deren Lieferketten verhängt hat. „Europäische Exporteure können die Verbindungen ihrer russischen Kunden zur Regierung oder zur Rüstungsindustrie überprüfen – und das sollten sie auch tun“, meint Olena Yurchenko.
Den italienischen Geheimdiensten mag das vielleicht entgangen sein, den ukrainischen Analysten jedoch nicht. Ihnen entgeht kaum ein Schritt der in Russland tätigen italienischen Unternehmen. Das bedeutet allerdings nicht, dass italienische Epoxidharze in Zukunft über Drittstaaten nach Moskau gelangen könnten oder Russland eine ausreichende eigene Produktion dieser Harze aufbaut.
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