Von: ka
Neapel/Paris/Rom – Vier Tage nach dem Skandalboxkampf zwischen Angela Carini und der algerischen Athletin Imane Khelif wird die Frage, ob es fair sei, die Algerierin, dessen Geschlechtsangabe strittig ist und die das männliche Chromosom Y aufweisen soll, zu den Boxwettbewerben der Olympischen Spiele in Paris zuzulassen, noch immer heiß diskutiert.
Nach den wilden Polemiken, an denen sich nicht nur Sportler, sondern auch Politiker aus aller Welt beteiligten, warnt das IOC zwar davor, die Geschlechterdebatte in einen “Kulturkampf” zu verwandeln, aber die Tatsache, dass beide Athletinnen, die als intersexuell gelten – sowohl Imane Khelif als auch Lin Yu-Ting aus Taiwan – nach zwei gewonnenen Begegnungen bereits vor den Semifinalmatches eine Medaille sicher haben, nährt die Kritik, dass bei den Frauenboxwettbewerben keine Chancengleichheit herrsche.
Vom Corriere della Sera interviewt, nimmt auch der angesehene Genetiker Bruno Dallapiccola zu dieser Frage Stellung. “Es könnte sich um das Morris-Syndrom handeln. Sie ist eine Frau, aber einige Aspekte müssten geklärt werden”, so die Koryphäe der Genetik.
Zu seiner Meinung zur algerischen Boxerin Imane Khelif befragt, betont Professor Bruno Dallapiccola, dass er zwar aus medizinischer Sicht Stellung beziehen könne, es sich bei diesem Fall aber im Grunde um eine ethische Frage handle. “Es ist in erster Linie eine ethische Frage. Wir als Mediziner können zwar klinische Fälle erklären, aber die Festlegung der Regeln sind Aufgabe derjenigen, die sportliche Wettkämpfe organisieren und leiten”, meint Professor Bruno Dallapiccola.
Ohne Einsicht in ihre Krankenakte sei der angesehene Genetiker zwar nicht imstande, eine abschließende medizinische Bewertung vorzunehmen, aber als Mediziner könne er sich sehr wohl ein Bild machen. “Nach dem, was ich gesehen habe, könnte es sich um eine Person mit dem sogenannten Morris-Syndrom – also einer Feminisierung der Hoden, fachlich als Syndrom der testikulären Feminisierung bezeichnet – handeln. Eine von etwa 30.000 Personen ist von diesem Syndrom betroffen”, so Dallapiccola.
Aufgrund des Vorhandenseins der XY-Geschlechtschromosomen handelt es sich bei den Patienten aus streng genetischer Sicht um männliche Individuen. Allerdings sind die Geschlechtsorgane teils männlich, teils weiblich ausdifferenziert, wobei die äußeren Geschlechtsorgane oftmals weiblich sind. Es werden auch Androgene, das heißt männliche Sexualhormone, gebildet, aber da der Wirkungsort dieser Hormone, der Androgenrezeptor, jedoch unzureichend oder gar nicht funktioniert, ist die Wirksamkeit der männlichen Sexualhormone entsprechend vermindert oder gar nicht vorhanden.
“Wenn sie, wie es scheint, am Morris-Syndrom leidet, ist sie eine Frau mit XY-Chromosomen und einem testosteronproduzierenden Hoden. Um ernsthafte Komplikationen zu vermeiden, wird der Hoden normalerweise vor der Pubertät entfernt. Charaktertisch für dieses Syndrom ist, dass es Patienten gibt, die gegenüber dem Testosteron vollkommen unempfindlich sind, während bei anderen das männliche Sexualhormon nur eine teilweise Wirkung zeigt”, betont Professor Bruno Dallapiccola.
“Und genau das ist der Punkt, der untersucht werden muss. Denn wenn es nur teilweise wäre, würde sich das auf die Muskelmasse auswirken, wodurch sich die Frage ergibt, ob es richtig ist, dass solche Personen im Boxen gegen Frauen kämpfen dürfen – aus meiner Sicht wahrscheinlich nicht”, bezieht der anerkannte Genetiker klar Stellung.
Auf das äußere Aussehen Imane Khelifs angesprochen, meint Professor Bruno Dallapiccola, dass es sich bei ihrem Fall um eine teilweise Androgenresistenz handeln könnte. Auf die Entgegnung des Journalisten des Corriere della Sera, dass die algerische Athletin auch Matches verloren hat und beispielsweise im Viertelfinale der Spiele in Tokyo ausgeschieden ist, antwortet der Genetiker, dass es sich beim Testosteronspiegel nur um einen von mehreren Faktoren handle und zum Erfolg im Sport auch Talent, Technik und Training gehören.
Zur Niederlage von Angela Carini befragt, meint der Genetiker, dass bei diesem kurzen Kampf, der nur 46 Sekunden dauerte, auch psychologische Aspekte eine große Rolle gespielt hätten.
Zurückkommend auf die Frage der Fragen, ob es fair sei, dass Imane Khelif im Boxkampf gegen Frauen antreten kann, meint Professor Bruno Dallapiccola, dass die Antwort noch einer abschließenden Klärung bedürfe.
“Da es eine Trennung zwischen Männern und Frauen gibt, kann sie bei den Frauen antreten, aber dabei kann man es nicht belassen. Auf internationaler Ebene ist es notwendig, einen gemeinsamen Grenzwert für männliche Sexualhormone einzuführen. Das IOC und die Verbände sollten gemeinsam mit Experten, die jeweils über ihr eigenes Fachwissen verfügen, Bewertungen vornehmen und Entscheidungen auf der Basis eines festen und nicht eines variablen Grenzwerts treffen. Diejenigen, die an Krankheiten oder Syndromen leiden, die eine verstärkte Bildung von männlichen Sexualhormonen bedingen, könnten gegen Frauen antreten, aber Fälle von Personen, die einen Hoden besitzen, sollten davon getrennt bewertet werden”, versucht der Genetiker diese schwierige Frage zu beantworten.
Die Frage, ob die beiden Kategorien der Geschlechter männlich und weiblich nun durch den Testosteronspiegel vorgegeben seien, wird von Professor Bruno Dallapiccola bejaht. “Ja, das ist möglich. Wie wir sehen, hat jeder ein bisschen Recht. Deshalb ist es dringend notwendig, Klarheit zu schaffen”, so abschließend der angesehene Genetiker.
Diese Hypothese und die Tatsache, dass beide Athletinnen, die als intersexuell gelten – sowohl Imane Khelif als auch Lin Yu-Ting aus Taiwan – nach zwei gewonnenen Begegnungen bereits vor den Semifinalmatches eine Medaille sicher haben, nährt die Kritik, dass bei den Frauenboxwettbewerben keine Chancengleichheit herrsche. Sowohl Angela Carini als auch die Ungarin Anna Luca Hamori – beide verloren ihre Matches gegen Imane Khelif – wiesen auf die harten Treffer der muskulär sichtlich überlegenen Algerierin hin. Nach den Polemiken der letzten Tage ziehen es aber beide vor, die Debatte nicht weiter zu befeuern.
Viele Frauenrechtlerinnen und Sportlerinnen meinen aber, dass diese Debatte unbedingt geführt werden muss. Wie auch Professor Bruno Dallapiccola anmerkt, sind genaue Grenzwerte und unverrückbare Kriterien festzulegen. Die bisherige Intransparenz des IOC und der Verbände trägt wenig dazu bei, die notwendige Klarheit zu schaffen. Es gilt das Recht der Teilnahme aller an Olympischen Spielen zu sichern, gleichzeitig aber Wettkämpfe auf sportlich gleicher Augenhöhe zu gewährleisten. Im Moment scheint das nicht der Fall zu sein.
Zudem reißen die Proteste nicht ab. Nachdem sie ihre Begegnung mit Lin Yu-Ting verloren hatte, formte die bulgarische Boxerin Svetlana Kamenova Staneva zum Zeichen des Protests mit ihren beiden Zeigefingern ein X. “Ich bin eine Frau”, so die unmissverständliche Botschaft der Bulgarin. “Ich bin kein Arzt, ich weiß nur, dass die Chromosomen meiner Gegnerin es ihr nicht hätten erlauben dürfen, anzutreten”, so Svetlana Kamenova Staneva nach dem Match. Ihr Trainer hielt ein Transparent mit zwei Botschaften in englischer Sprache in die Höhe: “Rettet das Frauenboxen” und “Ich will nur gegen Frauen kämpfen”.
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