Opposition kritisiert Verfassungsreform

Ein parteiübergreifendes Nein

Dienstag, 29. November 2016 | 12:04 Uhr

Bozen – Die deutschsprachigen Abgeordneten der Oppositionsparteien im Südtiroler Landtag haben heute Vormittag ihr vereintes NEIN zur geplanten Verfassungsreform bei einer Pressekonferenz bekräftigt. Der Bevölkerung soll damit signalisiert werden, dass es nun gilt – über alle Parteigrenzen hinweg – die Interessen des Landes in den Vordergrund zu rücken.

„Die geplante Verfassungsreform hätte katastrophale Auswirkungen, vor denen uns nur noch ein entschiedenes NEIN schützen kann. Die SVP hat sich in völlige Abhängigkeit des Partito Democratico und von Matteo Renzi begeben und muss nun – trotz eindringlicher Warnungen von Rechtsexperten – für die Renzi-Reform werben. Mit dieser verantwortungslosen Haltung hat sich die SVP politisch völlig isoliert und gefährdet damit die Zukunft des Landes“, erklärt die Opposition.

Die Gründe für das NEIN seien unterschiedlich und vielfältig und wurden von den einzelnen Parteienvertretern auf der Pressekonferenz erläutert.

Die Süd-Tiroler Freiheit meint: „Wenn bei der Volksabstimmung am 4. Dezember die italienische Verfassungsreform angenommen wird, bedeutet dies, dass sich Südtirol morgen in einem Staat wiederfindet, der noch zentralistischer und noch autonomiefeindlicher sein wird als heute. Autonome Kompetenzen, die im Zuge der Föderalisierung mühsam errungen wurden, würden wieder an den Staat fallen, und die Autonomie würde damit nachhaltig geschwächt. Die geplante Verfassungsreform sieht die Abschaffung der Provinzen, die Entmachtung der Regionen, die Schwächung des Parlaments und die Einführung eines neuen Wahlrechts vor, mit dem eine Partei automatisch die absolute Mehrheit erhält. Alle Macht soll damit auf die Regierung nach Rom gelenkt werden. Dies, in Kombination mit einem Verfassungsgerichtshof, der in den letzten Jahren Südtirols Autonomie fortlaufend beschnitten hat, ist eine gefährliche Entwicklung, die wir verhindern müssen.“

Mit der geplanten Verfassungsreform komme zudem ein altes, bedrohliches Gespenst wieder zum Vorschein: das „nationale Interesse“. Damit werde der italienischen Regierung die Möglichkeit eingeräumt, auch in die Gesetzgebung der Regionen einzugreifen – und zwar immer dann, wenn es um die „juridische und wirtschaftliche Einheit der Republik und das nationale Interesse“ gehe, erklärt die Süd-Tiroler Freiheit. Was „wirtschaftliche Einheit“ zur Folge haben kann, durfte Südtirol in der „Wirtschaftskrise“ unter Ministerpräsident Mario Monti erfahren haben, meint die Bewegung. „Die Finanzautonomie wurde einfach gebrochen, und Südtirol hat tausende Millionen Euro unwiederbringlich an Italien verloren. Südtirol hat mit der Verfassungsreform nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren! Der beste Schutz für Südtirol ist daher ein NEIN zur zentralistischen Verfassungsreform“, betont die Süd-Tiroler Freiheit

Italien sei auf dem Weg in die Post-Demokratie – „und die SVP macht fröhlich mit!“, meinen hingegen die Freiheitlichen. „Auch Ausland-Südtiroler erhielten Post von Renzi – auf Kosten der Steuerzahler “Italicum” ist ein “Porcellum” zur Potenz! “Jetzt beginnt der Endspurt im Hinblick auf das Verfassungsreferendum am 4. Dezember und die Töne werden schärfer. Im Renzi-Lager ist wachsende Nervosität bemerkbar, hat er doch seine politische Zukunft ursprünglich an den Ausgang dieses Referendums geknüpft. Daher kommen von dieser Seite nicht so sehr inhaltliche Informationen über die wahren Absichten der Verfassungsänderung, sondern vorwiegend Äußerungen im Stil zentralistischer Propaganda. Genau das ist des Pudels Kern: Zentralismus und Antiregionalismus feiern fröhliche Urständ’. Dies gilt auch für Südtirol, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung“, so die Freiheitlichen.

„Daher handelt die SVP mit ihrer bedingungslosen Zustimmung (siehe auch die Erklärung von Udine vom 7. Oktober 2016) fahrlässig und unverantwortlich. Die viel gepriesene Schutzklausel wird sich über kurz oder lang als wirkungslos erweisen“, so die Freiheitlichen. Die Propaganda von Ministerpräsident Renzi sei auch den Ausland-Südtirolern zugestellt worden, was zu großen Irritationen geführt habe. Da werde den Menschen ein Rosa-Bild gemalt und die Selbstdarstellung bzw. Selbstbeweihräucherung Renzis auf Kosten der Steuerzahler sei eine Zumutung sondergleichen. Abbildungen mit den “Großen” dieser Welt sollten wohl signalisieren: Schaut her, ich bin mittendrin, meinen die Freiheitlichen.

Ein Blick auf die italienischen Staatsschulden, auf die Zustände in den Großstädten und auf die Gesamtlage genüge laut den Freiheitlichen, um das Bild geradezurücken und der Wirklichkeit ins Auge zu schauen. Südtirol müsse sich überlegen, ob es dauerhaft diesem Staat die Treue halten oder doch endlich ausbrechen wolle. „Man kann es nicht oft genug wiederholen, diese Verfassungsreform muss im Zusammenhang mit dem neuen Wahlgesetz bewertet werden. Künftig sichert sich die stärkste Partei 55 Prozent der Sitze in der Abgeordnetenkammer und somit die absolute Mehrheit. Dieses ‘Italicum’ ist ein ‘Porcellum’ zur Potenz – und auch dieses Gesetz wurde von der SVP unterstützt! Damit wird in Italien das Tor für postdemokratische Zustände aufgestoßen und die Machtkonzentration in der Hand eines einzigen Mannes (egal ob dieser dann Renzi oder Grillo heißt) dürfte gerade die Südtiroler an unselige Zeiten erinnern. Alles andere als ein klares NEIN aus Südtirol am 4. Dezember würde vom Staat als bereitwillige Integration verstanden werden. Wenn Südtirol nicht mehr selbst bestimmen kann, was für das Land wichtig und richtig ist, wenn es sich dem Staat auf Dauer unterordnen muss – bekanntlich behält sich der Staat den Supremat vor – gibt es sich im Grunde selber auf”, erklärt der Landtagsabgeordnete Pius Leitner abschließend.

Auch die Fünf Sterne-Bewegung ist gegen die Reform. „Die Verfassung hätte eigentlich die Funktion, die Regierung zu kontrollieren und das Risiko zu limitieren, dass diese ihre Zuständigkeiten übertritt und es zu regime-ähnlichen Zuständen kommt. Hier geschieht das genaue Gegenteil. Mit dem starken Mann in Rom, aber generell mit jeder Regierung die den Zentralismus hochleben ließ, hat Südtirol immer schlechte Erfahrungen gemacht. Als Gegenleistung dafür erhalten wir herzlich wenig: eine optimistisch als Schutzklausel bezeichnete temporäre Aufschubsklausel, die aber wie ein schlechter Vertrag aussieht, da gerade das Wichtigste, nämlich der Streitfall, nicht einmal ansatzweise geregelt ist. Was geschieht, wenn es zu keinem Einvernehmen mit der neuen Regierung kommt? Es ist das Prinzip der guten Hoffnung, des Vertrauens das die SVP offensichtlich in ihren Ehepartner PD hegt. Vertrauen in Rom? Nein danke“, meint der Landtagsabgeordnete Paul Köllensperger.

Auch Renzi werde irgendwann gehen, die Verfassung jedoch bleibe, so der M5S. „Wir haben mit dieser Reform nur zwei Sicherheiten: erstens, dass der Staat stramm zentralisiert und der Regionalismus abgebaut wird. Zweitens, dass wir mit unserer Aufschubsklausel im Streitfall vor dem Verfassungsgericht landen. Aber gerade diesem geben wir mit dieser Reform ganz neue, scharfe Waffen in die Hand, um uns gehörig zu stutzen: das nationale Interesse, die Suprematie des Staates, die Ersatzbefugnis mit der Rom sich in unsere Zuständigkeiten einmischen kann, überhaupt der zentralistische Geist der neuen Verfassung. Wir liefern uns dem Zentralstaat aus: Morgen wird eine Partei in der neuen Abgeordneten Kammer 55 Prozent alleine haben und sich also selber das Vertrauen aussprechen, der Senat setzt sich zu 90 Prozent aus Abgeordneten der Normalregionen zusammen die uns alles eher als gut gesinnt sind, der neue Staatspräsident wird von derselben Partei ernannt, die dann zusammen mit diesem zehn der 15 Mitglieder des neuen Verfassungsgerichtshofes ernennen wird, sowie sechs der sieben Vorstände der RAI. Das riecht nach Regime. Als Gegenleistung preist die Regierung Renzi die vermeintlichen Einsparungen an: 57 Millionen Euro, praktisch ein Kaffee pro Einwohner“, betont der M5S. Am 4. Dezember solle man deshalb NEIN wählen.

Die BürgerUnion meint: „Für uns Südtiroler ist das Verfassungsreferendum am 4. Dezember auch eine Vertrauensabstimmung über den Staat Italien: Vertrauen wir darauf, dass sich Roms neuer Zentralismus nicht auch gegen die Südtirolautonomie richtet und uns nachhaltig schadet? Vertrauen wir darauf, dass Rom die so genannte Schutzklausel zum Vorteil oder zum Nachteil Südtirols interpretiert? Vertrauen wir darauf, dass der Staat bei der Änderung des Autonomiestatuts Einwände Südtirols akzeptiert oder sie irgendwann mit einer eigenen Interpretation vom Tisch wischt? Vertrauen wir darauf, dass bei Auslegungskonflikten das Verfassungsgericht in Rom künftig die Südtirol-Autonomie respektiert oder im zentralistischen Geiste der neuen Verfassung noch negativer gegen Südtirol entscheidet wie bislang? Das beste Argument gegen die Verfassungsreform, also für ein Nein zu dieser Reform, ist die Südtirol-Schutzklausel selbst: Wenn es gegen die neue italienische Verfassung einen Schutz braucht, dessen Wirkung unter Wissenschaftlern umstritten ist, dann ist es doch besser, gleich Nein zur neuen italienischen Verfassung zu sagen. Sicher ist sicher!“

Wenn die Südtiroler als Minderheit im Staat Ja zur zentralistischen Verfassungsreform Italiens und damit zur totalen Machkonzentration in Rom sagt, dann kette sie sich an den italienischen Zentralstaat, schwäche die Autonomie und versperre sich einer eigenständigeren Zukunft, so die BürgerUnion.

„Wenn die Südtiroler mehrheitlich Nein zur Renzi-Verfassungsreform sagen, dann sagen sie nein zum Zentralismus und zu einem autoritären Zentralstaat, bleiben auf Distanz zu Rom und halten sich für die Zukunftsentwicklung alle Optionen offen“, ist die BürgerUnion überzeugt.

Von: mk

Bezirk: Bozen