Von: APA/Reuters/dpa
Die EU-Staats- und Regierungschefs beraten bei einem Gipfel in Brüssel am Abend weiter über die Nutzung der eingefrorenem russischem Vermögen für die Ukraine. Dazu seien “viele Fragen noch offen”, sagte Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) am Donnerstag. Gipfelerklärungen für mehr Aufrüstung und zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Bürokratieabbau wurden bereits verabschiedet: Die Klimaziele dürften nicht zu Lasten der Wirtschaft gehen.
Ratspräsident Antoina Costa kündigte an, für 12. Februar einen informellen Sondergipfel zur Wettbewerbsfähigkeit einzuberufen. Der Europäische Rat habe eine strategische Diskussion über die Erreichung des Klimaziels 2040 geführt, heißt es im Kapitel der Schlussfolgerungen. Es wird betont, dass in diesem Bereich mögliche “Defizite nicht zu Lasten anderer Wirtschaftssektoren gehen”. Diese Passage hatte im Entwurf der Erklärung gefehlt; mehrere EU-Staaten, darunter Österreich, hatten bereits im Vorfeld eine stärkere Berücksichtigung von Wettbewerbsfähigkeit und Industrie bei der Festlegung der EU-Klimaziele 2040 gefordert. Bundeskanzler Stocker betonte vor Beginn des EU-Gipfels die Wettbewerbsfähigkeit als Voraussetzung für die Klimaziele. Beim Eintreffen im EU-Ratsgebäude sagte Stocker: “Wir dürfen nicht das eine oder das andere im Auge haben, wir müssen beides sehen.”
Weiters betont wird “die Notwendigkeit einer Revisionsklausel angesichts der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, technologischen Fortschritte und sich wandelnder Herausforderungen und Chancen für die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU”. Die endgültige Entscheidung über die Klimaziele 2040 war im September verschoben worden, um eine Debatte auf dem EU-Gipfel zu ermöglichen. Auch Österreich hatte dies unterstützt und damit begründet, da es sich “nicht nur um eine isolierte klima- oder umweltpolitische Entscheidung” handle. Eine Festlegung auf konkrete Zahlen ist erst bei einem Treffen der Umweltminister am 4. November geplant.
Änderungen auch bei ETS2 gefordert
Änderungen fordert die Gipfelerklärung auch beim neuen europäischen Emissionshandelssystem für den Gebäude-und Verkehrssektor (ETS2), das ab 2027 laufen soll. Ziel von ETS2 ist, die durch die Nutzung von Heiz- und Kraftstoffen verursachten CO2-Emissionen innerhalb der EU zu senken. Die Unternehmen müssen jedes Jahr so viele Zertifikate kaufen, wie die durch von ihnen in Verkehr gebrachten Brennstoffe an Emissionen verursacht haben. Befürchtungen waren, dass sie dies an die Konsumentinnen und Konsumenten weitergeben und dadurch etwas die Heizpreise steigen könnten.
Zudem sprechen sich die EU-Chefs für den weiteren Abbau von bürokratischen Hindernissen aus und begrüßen die Initiativen der Kommission: “Insbesondere begrüßt der Europäische Rat die Arbeit an den Omnibus-Paketen zur Vereinfachung der Vorschriften für Investitionen und den CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) sowie die Maßnahmen zur Aussetzung der Fristen für die Nachhaltigkeitsberichterstattung, die Sorgfaltspflicht für Batterien und Chemikalien”. Diese Maßnahmen waren teils von Umweltschützern schwer kritisiert worden.
Einwände zur Nutzung russischer Vermögen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte in einer Pressekonferenz nach seinem Treffen mit den Staats- und Regierungschefinnen- und chefs, er hoffe, dass diese heute eine positive Entscheidung treffen würden, um der Ukraine mit Mitteln aus eingefrorenen Vermögenswerten zu helfen. “It ́s a big deal”, das sei eine große Sache, betonte er. Wofür die Gelder verwendet würden, könne später entschieden werden. Er erneuerte aber seine Wünsche nach mehr Geld für Waffen, die sein Land weiterhin dringend brauchen würde. Heute “sind wir nahe an dieser wichtigen Entscheidung”, zeigte er sich optimistisch. Er dankte auch seinen EU-Partnern für das 19. Sanktionspaket und US-Präsident Donald Trump und den USA für die Sanktionen gegen den russischen Öl- und Gassektor.
Der deutsche Kanzler Friedrich Merz zeigte sich zur Nutzung der russischen Vermögen optimistisch, dass der EU-Gipfel einer Lösung näher kommt. Auch EU-Ratspräsident Antonio Costa äußerte sich optimistisch. Es gebe allerdings ein paar ernst zu nehmende Einwände, über die die 27 EU-Staats- und Regierungschefs sprechen müssten, räumte Merz ein. Besonders Belgien, wo der überwiegende Teil der russischen Gelder liegt, verlangt Garantien gegen mögliche Klagen. Während die EU-Regierungen auch den Weg für das 19. Sanktionspaket gegen Russland frei machten, gab es Lob für die neuen US-Sanktionen.
Die von der EU-Kommission und Merz vorgeschlagene Nutzung des russischen Vermögens für einen Kredit über 140 Milliarden Euro für die Ukraine steht im Zentrum der Beratungen in Brüssel. Der Ukraine sollen damit die Militärausgaben der kommenden zwei oder drei Jahre finanziert werden. Am Vormittag nahm der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, der als Kritiker des EU-Kurses gilt, nicht an den Beratungen in Brüssel teil.
Belgien nennt Bedingungen
Belgien knüpft die Zustimmung zu einem 140-Milliarden-Euro-Kredit für die Ukraine aus russischem Vermögen an drei Bedingungen. Noch sehe er keine Rechtsgrundlage für eine solche Entscheidung, betonte Ministerpräsident Bart De Wever. Belgien spielt eine Schlüsselrolle, da der Finanzdienstleister Euroclear, der einen Großteil des russischen Geldes verwahrt, dort seinen Sitz hat.
De Wever forderte eine vollständige Vergemeinschaftung des Risikos von Klagen sowie Garantien. Alle EU-Mitglieder müssten ihren Beitrag leisten, falls das Geld zurückgezahlt werden müsse. Zudem müsse jedes Land, das Vermögenswerte mobilisiert habe, im gleichen Tempo voranschreiten. “Wir sind die Einzigen, Euroclear ist das einzige Finanzinstitut, das die unerwarteten Gewinne an die Ukraine weitergibt”, sagte De Wever. “Wir wissen, dass es in anderen Ländern, die sich dazu immer ausgeschwiegen haben, riesige Mengen an russischem Geld gibt.” Dies gehört allerdings oft nicht der russischen Nationalbank wie bei Euroclear, sondern russischen Oligarchen.
Russland droht mit Gegenmaßnahmen
Russland warnte die EU vor einer “direkten Konfiszierung” seines eingefrorenen Vermögens. Jede Maßnahme der EU zur Beschlagnahmung russischer Vermögenswerte auf Euroclear-Konten werde eine “schmerzhafte Reaktion” Russlands nach sich ziehen, sagte die Sprecherin des Außenministeriums in Moskau, Maria Sacharowa. Selenskyj bat die europäischen Verbündeten auf der Online-Plattform X eindringlich darum, die Lieferung von Waffen mit größerer Reichweite in die Ukraine zu ermöglichen. “Diese Langstreckenwaffen gibt es nicht nur in den USA – auch einige europäische Länder verfügen über sie, darunter Tomahawks”, sagte er beim EU-Gipfel.
EU winkt 19. Sanktionspaket durch
Abseits der Frage der russischen Gelder einigten sich die EU-Staaten auch auf ein 19. Sanktionspaket gegen Russland wegen des Ukraine-Überfalls. Es enthält unter anderem ein Einfuhrverbot für russisches Flüssigerdgas (LNG). Die Maßnahmen umfassen zudem einen neuen Mechanismus zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit russischer Diplomaten. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas erklärte, das Paket richte sich unter anderem gegen russische Banken, Krypto-Börsen sowie Unternehmen in Indien und China. Betroffen sind etwa zwei große chinesische Raffinerien und Chinaoil Hong Kong, eine Handelssparte von PetroChina. Diese verarbeiten importiertes russisches Öl. Gemeinsam mit den G7-Staaten versucht die EU, Russlands Mittel zur Finanzierung seines Krieges in der Ukraine weiter zu schmälern, indem sie die für Moskau lebenswichtigen Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung kürzt.
Verteidigung aller Land-, Luft- und Seegrenzen der EU ist sicherzustellen
“Der Europäische Rat verurteilt die Verletzung des Luftraums mehrerer Mitgliedstaaten und betont, wie wichtig es ist, die Verteidigung aller Land-, Luft- und Seegrenzen der EU sicherzustellen. Die unmittelbaren Bedrohungen an der Ostflanke der EU und die Bereitstellung konkreter Unterstützung für die Mitgliedstaaten müssen vorrangig angegangen werden”, heißt es im Abschnitt der Schlussfolgerungen zur Verteidigung. Zentrale Punkte der “Roadmap für Verteidigung” der EU-Kommission sind die Drohnenabwehr mittels der “Europäischen Drohnen-Verteidigungsinitiative”.
Der Europäische Rat habe eine Bestandsaufnahme der Arbeiten vorgenommen, die darauf abzielen, die Verteidigungsbereitschaft Europas bis 2030 entscheidend zu verbessern. Die Entschlossenheit, “dieses Ziel zügig und in großem Umfang zu erreichen”, wird bekräftigt. Europa müsse “autonom, koordiniert und mit einem 360°-Ansatz auf unmittelbare und künftige Herausforderungen und Bedrohungen reagieren” können. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf die europäische und globale Sicherheit stellten “eine existenzielle Herausforderung für die Europäische Union” dar.
Der Europäische Rat würdigt die bereits von den Mitgliedstaaten geleistete Arbeit und fordert sie auf, die Bildung von Fähigkeitskoalitionen in allen vorrangigen Bereichen bis Ende des Jahres abzuschließen und konkrete Projekte voranzutreiben, die in der ersten Hälfte des Jahres 2026 gestartet werden sollen. Die Arbeit sollte sich insbesondere auf Projekte zur Verbesserung der Fähigkeiten zur Drohnenabwehr und zur Luftverteidigung konzentrieren. Der Gipfel will auch die Rolle der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) stärken, und hier bis Ende des Jahres konkrete Vorschläge des Rates sehen. Die Rolle der EDA auch im Verhältnis zur NATO sorgte zuletzt für viele Diskussionen.
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