General Robert Brieger: Ein Österreicher war höchster EU-Militär

General Robert Brieger: “Sicherheit hat ihren Preis”

Dienstag, 08. Juli 2025 | 10:03 Uhr

Von: apa

Drei Jahre lang hat der Österreicher Robert Brieger in Brüssel die EU-Verteidigungspolitik koordiniert. Nun ist der ehemalige Generalstabschef des Bundesheeres wieder in Wien. Im APA-Interview lässt er an der Dringlichkeit der Bedrohungslage und der Notwendigkeit einer erhöhten militärischen wie geistigen Verteidigungsbereitschaft keinen Zweifel. Das Bundesheer muss vom Katastrophenhelfer zum Landesverteidiger werden, eine Debatte über die Neutralität sei unvermeidlich.

APA: Herr General, Sie haben bis Mai den Militärausschuss der Europäischen Union geleitet. Wie war das als Vertreter eines jener nur vier EU-Staaten, die nicht NATO-Mitglied sind?

General Robert Brieger: Auch mehrere meiner Vorgänger waren Vertreter von damals neutralen Staaten. Von Vorteil war sicher, dass kein Verdacht aufkommen konnte, dass große nationale Rüstungsinteressen im Hintergrund stehen. Weniger vorteilhaft ist natürlich, dass eine gewisse Hausmacht fehlt. Insgesamt hat, glaube ich, meine Position als österreichischer Offizier dem Ganzen gut getan und auch respektable Kompromisse hervorgebracht – etwa bei der Initiierung der militärischen Ausbildungsmission für die Ukraine oder dem Start der neuen Marine-Operation im Roten Meer Anfang 2024.

APA: Als Sie im Mai 2021 designiert wurden, war es politisch und militärisch buchstäblich eine andere Welt.

Brieger: Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die es seit 2001 gemäß Ratsbeschluss gibt, hat Krisenmanagement außerhalb der Union als Hauptaufgabe identifiziert. Hier hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine geht es primär um Verteidigung und territoriale Aufgaben in Europa. Meine Amtsübernahme im Mai 2022 erfolgte knapp drei Monate nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine – und ich habe sofort feststellen dürfen, dass sich die Prioritäten und Erwartungen gegenüber dem Militär und den Sicherheitsprovidern stark verändert haben.

“Taktische Nuklearwaffen Teil der russischen Militärdoktrin”

APA: Beim Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 schien alles möglich – inklusive eines Atomkriegs. Wie war die militärische Lageeinschätzung?

Brieger: Wir haben auf russischer Seite eine sehr harsche Rhetorik feststellen müssen, Teil war auch eine implizite Drohung mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen. Das waren meiner Einschätzung nach politische Signale. Wir müssen uns aber bewusst machen, dass der Einsatz taktischer Nuklearwaffen Teil der russischen Militärdoktrin ist. Eine Verwendung derartiger Waffen ist nicht auszuschließen – was einem nuklearen Schutzschirm, wie er derzeit durch die USA bereitgestellt wird, eine gewisse Bedeutung zumisst. Ich persönlich glaube, dass sich auch die Entscheidungsträger im Kreml der Eskalationsgefahr bewusst sind. Dementsprechend habe ich die unmittelbare Verwendung dieser Einsatzmittel nicht für wahrscheinlich gehalten.

“Der russische Angriff auf die Ukraine war ein Weckruf”

APA: Mehr als eine Generation ist in Mitteleuropa in Frieden und Wohlstand aufgewachsen. Bräuchte es nicht einen Bewusstseinswandel, dass es damit vielleicht bald zu Ende ist, wenn man nicht bereit ist, das auch zu verteidigen?

Brieger: Ich stimme Ihnen da voll zu. Ich denke, dass die geistig-psychologische Komponente unserer westlichen demokratischen Gesellschaft ein ganz fundamentaler Faktor ist, der mit der Wehr- und Verteidigungsbereitschaft unmittelbar zusammenhängt, und mir ist natürlich auch nicht entgangen, dass diese Komponente über die letzten Jahrzehnte vernachlässigt wurde. Für einen potenziellen Gegner muss eine glaubhafte Verteidigung erkennbar sein. Der russische Angriff auf die Ukraine war jener Weckruf, der die Entscheidungsträger dazu veranlasst hat, nunmehr doch deutliche Akzente zu setzen. Das ist durch die Steigerung der Verteidigungsbudgets auch in einer glaubwürdigen Form passiert. Nur mussten wir feststellen, dass diese Versäumnisse leider nicht in kürzester Zeit wettgemacht werden können. Deshalb sind die Bestrebungen der Herstellung einer europäischen Verteidigungsbereitschaft auf die Jahre 2030/32 fokussiert – um die Rüstungsindustrie, die Harmonisierung der Streitkräfte, aber auch den gesellschaftlichen Lernprozess voranzutreiben. Es muss klar werden: Sicherheit hat ihren Preis. Und der ist zu entrichten. Wie eine Versicherungspolizze.

Bundesheer muss wieder zur einsatzbereiten Armee werden

APA: Das Bild, das das Bundesheer in den vergangenen Jahrzehnten von sich entworfen hat, war das eines Katastrophenhelfers. Muss sich dieses Bild nicht radikal verändern?

Brieger: Ja, selbstverständlich. Der Katastrophenhelfer ist eine Nebenaufgabe – und ich muss selbstkritisch feststellen, dass das Bundesheer selbst den sympathischen Uniformträger, der bei Lawinen und Überschwemmungen zur Stelle ist, in den Vordergrund gestellt hat. Ein technisches Hilfswerk könnte man billiger haben. Wir sind als neutraler Staat zu Verteidigungsvorbereitungen verpflichtet. Wir haben das nicht so ernst genommen und stehen jetzt vor der Herausforderung, dieses reduzierte Bundesheer wieder zu einer einsatzbereiten Armee zu machen, die auch in der Lage ist, gemeinsam mit internationalen Partnern zu agieren.

APA: Für viele in Österreich ist die Neutralität eine Heilige Kuh. Wünschen Sie sich eine neue Debatte darüber?

Brieger: Ich halte die Diskussion für unvermeidlich. Wenn man aber den Status der militärischen Neutralität beibehält, muss man mehr militärische Vorsorge treffen als ein Land in einem aufgabenteiligen Bündnis.

“Einführung der Kriegswirtschaft in Westeuropa nicht realistisch”

APA: Österreichs Verteidigungsbudget liegt bei einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die NATO hat bei ihrem jüngsten Gipfel eine Anhebung auf fünf Prozent beschlossen. So etwas wäre doch für Österreich total unrealistisch?

Brieger: Als Nicht-NATO-Mitglied sind wir dazu auch nicht verpflichtet. Ich halte die 5-Prozent-Forderung auch innerhalb der NATO für eine sehr starke Forderung. Ich glaube, man wollte damit vor allem den gegenwärtigen US-Präsidenten milde stimmen. Ich glaube, es ist ein Abtausch 5 zu 5: Wir streben die 5 Prozent an, die USA nehmen dafür die Beistandsverpflichtung in Art. 5 des NATO-Vertrags weiter ernst. Ob sich das in der Gegenrechnung mit anderen gesellschaftlichen Notwendigkeiten, die ja durchaus gegeben sind, ausgeht, wage ich nicht zu prognostizieren. Man muss aber wissen, dass Russland derzeit bei 8,9 Prozent des BIP ist – allerdings unter Inkaufnahme eines völlig inferioren Lebensstandards. Die Einführung der Kriegswirtschaft in Westeuropa ist nicht realistisch. Es wäre schon viel gewonnen, wenn es gelänge, die europäische Verteidigungsindustrie stärker zu integrieren, damit wir die unglaubliche Typenvielfalt einschränken.

“Das Wichtigste wäre ein gemeinsamer Markt für Verteidigungsgüter”

APA: Wäre das nicht Teil Ihres Jobs in der EU gewesen?

Brieger: Es sind eine Reihe von Schritten gesetzt worden, an denen das Militärkomitee unter meinem Vorsitz mitwirken durfte. Es gibt die klare politische Absicht der EU, die so genannte verteidigungsindustrielle Basis zu stärken. Das Wichtigste wäre ein gemeinsamer Markt für Verteidigungsgüter, und nun werden Maßnahmen dafür getroffen, von den 150 Mrd. der SAFE (Security Action for Europe) bis zur Lockerung der Stabilitätskriterien, um in den nächsten zehn Jahren auf die 800 Mrd. Euro zu kommen, die der Draghi-Bericht und das Programm ReArm-Europe bis 2030 vorsieht. Anfangs war es das primäre Ziel, die Ukraine zu unterstützen, um den ersten Abwehrerfolg zu erzielen, der ja Gott sei Dank auch eingetreten ist. Jetzt geht es auch darum, durch gemeinsame Beschaffung die durch Unterstützung der Ukraine dramatisch verringerten Reserven wieder aufzufüllen. In meinem letzten großen Bericht, den ich Mitte Mai abgegeben habe, ging es aber auch darum, entsprechende Strukturen für die territoriale Verteidigung der EU aufzubauen. Der Art. 42 (7) im EU-Vertrag sieht eine gemeinsame Beistandspflicht vor – aber es ist notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, wie das im Anlassfall tatsächlich gelebt werden soll, und wie das mit der NATO zu harmonisieren ist. Dabei geht es um höhere militärische Mobilität zwischen den Mitgliedsstaaten genauso wie um eine verkürzte Entscheidungsfindung. Wenn 27 Mitgliedsstaaten über Wochen debattieren, ob sie einander helfen sollen, wird das keine glaubwürdige Antwort sein.

APA: Braucht es nicht eher früher als später eine Entscheidung, ob entweder jedes EU-Mitglied künftig auch NATO-Mitglied sein muss, oder ob die EU auch eine starke Verteidigungsgemeinschaft werden muss, weil man sich auf die USA eben künftig nicht mehr verlassen kann?

Brieger: Das sind natürlich die Fragen, die auf der Tagesordnung stehen. Auch EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius sagt ganz unverblümt: Die EU muss das Geld ranschaffen, die NATO hat die militärische Struktur und die Operationspläne. Hier ist ein synergetischer Weg zu finden. Ein Beispiel: Die Kapazitätsziele der NATO sind vertrauliche Informationen, die der EU offiziell nicht zur Verfügung stehen. Obwohl 23 EU-Staaten NATO-Mitglieder sind! Am Ende meiner Zeit in Brüssel haben wir nun alle EU-Mitgliedsstaaten einzeln um Information ersucht. Aber das Grundproblem der fehlenden Kommunikation ist damit nicht gelöst. Solange ein NATO-Staat hier auf der Bremse steht, weil etwa Divergenzen mit der EU bestehen, wird sich das auch nicht ändern. Ebenso wird sich aber an der Notwendigkeit nichts ändern, dass sich Europa selbst verteidigen können muss. Die Amerikaner verheimlichen ja nicht, dass sie als Hauptkonkurrenten China sehen und dass ihr strategisches Hauptinteresse im Indopazifik liegt.

APA: Ich habe zuletzt mehrfach Aussagen gehört wie: “Es läuft uns die Zeit davon”, oder “Das ist vielleicht der letzte Friedenssommer.”

Brieger: In der EU ist man sich einig, dass Russland auf absehbare Zeit eine akute Bedrohung Europas darstellt. Eine Analyse, ob Russland das auch in die Tat umsetzen könnte, wird meiner Einschätzung nach erst nach Beendigung des Ukrainekriegs möglich sein. Wir haben es allerdings mit einem Regime zu tun, das gewisse imperiale Ambitionen verfolgt. In diesem Denken gehören Territorien wie die Ukraine und möglicherweise auch das Baltikum zu Russland. Als ich das Baltikum besuchen durfte, habe ich dort natürlich eine ganz andere Bedrohungswahrnehmung vorgefunden als in Westeuropa. Die Frage ist nur, ob das Risiko in Kauf genommen wird, und was strategisch langfristig damit erreicht werden soll.

“Vollständige Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine ist unrealistisch”

APA: Wie kann aus Ihrer Sicht der Ukrainekrieg beendet werden?

Brieger: Die schlechte Nachricht ist, dass die vollständige Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine militärisch unrealistisch ist. Das haben mittlerweile wohl auch die Politiker gelernt. Ich sehe nicht nur bei der Krim, sondern auch in der Ostukraine operativ und kapazitätsmäßig wenig Möglichkeiten, eine Entscheidung zugunsten der Ukraine herbeizuführen. Russland ist nach den mir zugänglichen Analysen mindestens noch zwei Jahre lang in der Lage, diesen Krieg weiterzuführen. Wie der Konflikt beendet werden kann, ist aber nur politisch zu beantworten. Die Initiative liegt bei Washington und Moskau, hoffentlich auch bei Kiew. Leider sehe ich wenige Sitze für die EU an diesem Verhandlungstisch.

APA: Kubilius sagt: Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht im Frieden.

Brieger: Auf einer unterhalb des konventionellen Kriegs befindlichen Schwelle sind wir schon jetzt im Krieg mit Russland: durch Desinformation, durch Cyberangriffe, durch die Finanzierung bestimmter Gruppen. Es gibt hunderte Beispiele, die uns zeigen, dass es hoch notwendig ist, die europäischen Gesellschaften resilienter zu machen.

“Fundamentaler Wechsel in Gefechtstechnik und Taktik”

APA: Welche Lehren zieht der Militär aus dem schon über dreijährigen Ukrainekrieg? War es absehbar, dass Drohnen derartig das Kampfgeschehen bestimmen werden?

Brieger: Es ist tatsächlich ein fundamentaler Wechsel in der Gefechtstechnik und Taktik eingetreten. Tatsächlich hat sich der Einsatz von Drohnen immens intensiviert. Maßnahmen und Gegenmaßnahmen im elektronischen Spektrum befinden sich in einem Rüstungswettlauf. Die Ukrainer sagen, es hat gar keinen Sinn, wenn sich die EU jetzt eine Million Drohnen zulegt, denn die sind in einem Monat schon wieder veraltet. Dazu kommt der ganze Aspekt der Künstlichen Intelligenz sowie die Robotik. Diese Entwicklung ist unumkehrbar. Bisher war ein Schützenloch ein Schutz. Das kann man vergessen. Auch im Bundesheer müssen wir den Gefechtsdienst neu denken.

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

(ZUR PERSON – General Robert Brieger (68) war 2018 bis 2022 Generalstabschef des Österreichischen Bundesheeres und von Mai 2022 bis Mai 2025 Vorsitzender des Militärausschusses der Europäischen Union. Das Gremium berät die EU-Außenbeauftragte und das Politische und Sicherheitspolitische Komitee der EU in militärischen Fragen.)

Kommentare

Aktuell sind 0 Kommentare vorhanden

Kommentare anzeigen