Von: mk
Moskau – Während die ukrainische Armee ihren Druck auf die Region Kursk aufrecht hält, wächst in Moskau die Panik. Russischen Medienberichten zufolge wurden dort die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Offenbar wächst die Befürchtung im Kreml, dass mit der ukrainischen Gegenoffensive auf russischem Staatsgebiet vermehrt Sabotagetruppen nach Moskau gelangen könnten.
Neben ihren Vorstoß in Kursk haben ukrainische Soldaten zudem Woronesch angegriffen, das weiter südlich an der gemeinsamen Staatsgrenze liegt. In der Nacht auf Mittwoch seien insgesamt 117 ukrainische Drohnen und vier Raketen abgefangen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Jeweils 37 Drohnen seien über Kursk und Woronesch zerstört worden. Wie viele Geschosse die ukrainischen Streitkräfte abgefeuert haben, ließ das Ministerium offen.
In der russischen Oblast Belgorod, die zwischen Kursk und Woronesch liegt und ebenfalls an die Ukraine grenzt, verhängte Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow den Ausnahmezustand. Die Lage sei weiterhin äußerst schwierig und angespannt, teilte er auf Telegram mit. An die Zentralregierung in Moskau richtete Gladkow den Appell, “einen föderalen Notstand auszurufen”.
Polizeikräfte, die in Moskau patrouillieren, sowie die russische Nationalgarde haben unterdessen russischen Berichten zufolge ihre Dienstzeiten aufgestockt, wobei Mitarbeiter tägliche „Reserven“ bilden.
Den Quellen zufolge wurden Polizeibeamte außerdem vor möglichen Versuchen gewarnt, man könne sie ihrer Dienstwaffe berauben. Auf Anordnung der Führung des Spezialregiments dürfen junge Polizisten, die erst neu angestellt sind, nur noch zusammen mit erfahrenen Kollegen ihren Dienst absolvieren.
Außerdem sind Mitarbeiter des Sonderregiments mit Maschinengewehren zusammen mit den Mitarbeitern der Verkehrspolizei im Einsatz. Sicherheitsvorkehrungen im Zentrum von Moskau und um den Kreml wurden verstärkt. Darüber hinaus halten sich Mitarbeiter des Sonderregiments und der OMON, der „Mobilen Einheit besonderer Bestimmung“ (ein Großverband der russischen Nationalgarde), täglich in ihrem Stützpunkt in Bereitschaft, um im Bedarfsfall schnell eingreifen zu können.
Die Vorkehrungen sorgen auf ukrainischen Telegram-Kanälen für Spott. “Macht sich der Bunker-Mann langsam Sorgen?”, lautet etwa ein Kommentar in Anspielung auf Kreml-Despot Wladimir Putin.
Die Ukraine schlägt mit ihrem Vorstoß auf russisches Gebiet mehrere Fliegen mit einer Klappe. Für Putin besonders ärgerlich ist: Die ukrainischen Streitkräfte zeigen der Welt und vor allem auch der russischen Bevölkerung, dass Russland nicht unbesiegbar ist. Ähnlich wie andere Diktatoren verspricht Putin innenpolitisch Sicherheit im Austausch gegen Verzicht auf persönliche Freiheiten. Dieser Pakt wirkt nun brüchig, die überraschende Bodenoffensive lässt Putin vor seinen eigenen Gefolgsleuten schwach aussehen.
Noch stellt die Staatspropaganda in Russland den Vormarsch auf russisches Gebiet als Werk des Westens und verkappter NATO-Soldaten dar. Doch wie lange die Bürger in Russland dieses Narrativ schlucken, bleibt fraglich.
Einerseits will die Ukraine die Eroberungen in Kursk als eine Art Faustpfand für Friedensverhandlungen einsetzen. Unter Umständen stoßen die ukrainischen Truppen sogar bis zum Atomkraftwerk in Kursk vor und könnten es besetzen – ähnlich wie sich derzeit das Atomkraftwerk in Saporischschja in russischer Hand befindet.
Andererseits trifft die Ukraine auch die russische Logistik. Für Russland wichtige Versorgungslinien könnten unterbrochen werden, womit weitere Angriffe auf die Ukraine unterbunden würden. Strategisch wichtig ist unter anderem eine Eisenbahnlinie, die durch Kursk verläuft, wie der Militärökonom Marcus Keupp von der ETH Zürich in einem ZDF-Interview erklärte.
Muss Russland tatsächlich Truppen von der Front in der Ukraine abziehen, um den Vorstoß auf eigenem Gebiet aufzuhalten, könnte die ukrainische Armee die Operation in Kursk als Erfolg verbuchen. Insbesondere an der Donezk-Front im Osten stehen die Ukrainer unter massivem Druck: Die Russen stoßen dort vergleichsweise schnell auf die 60.000-Einwohner-Stadt Pokrowsk vor, die ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt ist. Das Kalkül könnte sein, dass der russischen Führung die Verteidigung ihres Kernlandes wichtiger ist als die weitere Eroberung ukrainischem Territoriums – selbst wenn es um Gebiete geht, die Putin im Herbst 2022 völkerrechtswidrig annektiert hat, schreibt die Berliner Morgenpost.
Die Ukraine koppelt an ihre Vorstöße in russisches Territorium unterschwellig außerdem eine Kritik am westlichen Verbot, gelieferte Waffen gegen Ziele weiter im Inneren des russischen Kernlands einzusetzen. Der ukrainische Einmarsch in das Gebiet Kursk wäre “weniger notwendig”, wenn Kiew “seine Langstreckenfähigkeiten” gegen Russland “voll ausschöpfen” dürfte, sagte der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, Heorhii Tykhyi, auf einer Pressekonferenz. Die USA erlaubten der Ukraine im Juni, russische Militärziele jenseits der Grenze anzugreifen, behielten aber ein Verbot für Angriffe mit Langstreckenwaffen wie ATACMS tief in Russland bei.
Gleichzeitig könnte die Ukraine noch andere strategische Ziele verfolgen, die derzeit noch unklar sind, und damit noch mit weiteren Überraschungen in der Hinterhand aufwarten. Trotz allem ist die Operation in Kursk auch für die Ukraine hochriskant. Das ukrainische Heer setzt modernstes westliches Kriegsgerät und gut ausgebildete Einheiten ein. Fallen diese Einheiten dem Feuer der russischen Luftwaffe zum Opfer, wäre das wohl ein militärisches Fiasko.
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