Von: mk
Erzin – Das Erdbeben in der Türkei und Syrien hat nach aktuellem Stand über 46.000 Leben gefordert, über 40.000 sind es allein in der Türkei. Seit das Beben das Land erschüttert hat, taucht immer wieder die Frage auf: Hätten die vielen Toten verhindert werden können? Ein Blick in die Stadt Erzin zeigt, dass nicht nur Schicksal im Spiel war.
Die Provinz Hatay hat das Erdbeben in der Türkei schwer getroffen, berichtet die Online-Ausgabe des Merkur: Wie an so vielen Orten im Land fielen Gebäude in zahlreichen Städten wie Kartenhäuser in sich zusammen. Die Stadt Erzin liegt inmitten der betroffenen Region, doch dort gibt es erstaunlicherweise kein einziges Todesopfer zu beklagen.
Grund dafür ist offenbar die gewissenhafte Arbeit von Bürgermeister Ökkeş Elmasoğlu, der sich in Fragen der Bausicherheit nicht beirren ließ. Das Beispiel Erzin zeigt auch, welche Verantwortung die AKP um Präsident Erdogan für die Folgen der Naturkatastrophe trägt und was man möglicherweise hätte verhindern können.
Der 44-jährige Bürgermeister der Stadt mit 42.000 Einwohnern gehört der kemalistischen Oppositionspartei CHP an. Seit 2019 ist er im Amt. Für die Tatsache, dass Erzin deutlich weniger schwer getroffen wurde, als andere Städte, hat er eine ebenso einfache wie plausible Erklärung, die er auch öffentlich im türkischen Fernsehen kundtat: „Ich habe keine illegalen Bauten und Bautätigkeiten zugelassen. Manchmal hat man sich über mich geärgert und mich spöttisch gefragt, ob ich der einzige Anständige im Land sein wolle. Ich habe also ein reines Gewissen. Ich habe keine illegalen Bauten zugelassen.“
Der Bürgermeister hat seine Arbeit in Fragen der Bausicherheit nach bestem Wissen erledigt und damit wohl zahllose Leben gerettet. In der Türkei ist er inzwischen zur Symbolfigur avanciert. Elmasoğlu ist davon überzeugt: Viele Erdbebentote hätten verhindert werden können.
„Die Bauaufsicht in der Türkei funktioniert nicht. Wenn vorschriftsmäßig gebaut wird, stürzt ein Haus nicht so schnell ein“, erklärte der Bürgermeister gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Vor den Wahlen hat man in der Türkei Bauherren, die sich eigentlich strafbar gemacht haben, bisweilen Straffreiheit gewährt. Im Jahr 2019 hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Amnestie für fehlerhafte Bauwerke genehmigt. Durch den „Baufrieden“ wurde fehlerhaften Bauten im Nachhinein abgesegnet. Wie sich nun zeigt, sind die Folgen verheerend.
Elmasoğlu glaubt, es sei zu einfach, nur den Bauherren die Schuld zu geben. Die gesamte Verantwortung werde den Bauunternehmern und den Besitzern der Häuser selbst überlassen“, erklärte er der Süddeutschen Zeitung gegenüber: „Viel zu viele Neubauten werden genehmigt. Oft werden sie nach Bauende gar nicht vor Ort besichtigt, sondern nur anhand von Fotos abgenommen. Das ist also ein Glücksspiel, wie eine Lotterie. So kann man doch keine Baukontrolle machen.“
Seit dem Erdbeben wird die Kritik an der politischen Führung in der Türkei immer lauter. Auch der Umgang der Regierung mit der Erdbebensteuer ist Gegenstand aktueller Debatten, weil sie offenbar überwiegend nicht dort ankam, wo sie sollte.
Ökkeş Elmasoğlu betont außerdem, dass es in Erzin keine Hochhäuser und fast nur Einfamilienhäuser gebe. Dies habe die Stadt begünstigt. Selbst einige Schwarzbauten aus der Zeit vor seinem Amtsantritt seien verschont geblieben. Doch Erzin hatte nicht einfach nur „Glück“. Der Bürgermeister hat klare Vorstellungen, was für die Sicherheit getan werden muss. Er sagt, dass Schwarzbauten konsequent abgerissen werden müssten: „Wenn man zehn abreißt, baut keiner mehr fahrlässig. Alle Verantwortlichen müssen vor Gericht. Die Bauwirtschaft muss von der Einflussnahme der Politik befreit werden.“
Diese Denkweise liegt in der Türkei offenbar noch in weiter Ferne: Noch kurz vor dem Beben hatte die Regierung laut Elmasoğlu über weitere Amnestien nachgedacht. Nun wächst der öffentliche Druck jedoch.