Von: apa
UNO-Menschenrechtskommissar Volker Türk betrachtet das Vorgehen Israels im Kampf gegen die Hamas im Gazastreifen als nicht mehr durch das völkerrechtliche Prinzip der Selbstverteidigung gedeckt, obwohl Israel an das Kriegsvölkerrecht gebunden wäre. “Was wir in den letzten Monaten sehen, hat nichts mehr mit Respekt von fundamentalen Grundsätzen der Humanität zu tun”, sagte der Österreicher am Dienstag im “Morgenjournal” des ORF-Radios Ö1.
Lage “katastrophal”
Die Situation in dem Palästinensergebiet sei “katastrophal”. “Man kann keine Worte mehr finden, um das zu beschreiben”, formulierte es Türk. Die massenhafte und mehrfache Vertreibungen der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist für Türk genauso “höchst bedenklich” wie der Umstand, dass mittlerweile rund 80 Prozent des Territoriums des Gazastreifens Militärgebiete seien, wo sich keine Menschen aufhalten dürfen.
Druck auf israelische Regierung gefordert
Bereits Mitte des Monats hatte Türk “ethnische Säuberungen” durch Israel im Gazastreifen festgestellt. “Es sieht nach einem Vorstoß für eine dauerhafte Bevölkerungsverschiebung in Gaza aus, der das Völkerrecht missachtet und einer ethnischen Säuberung gleichkommt”, hatte der Leiter des UNO-Menschenrechtsbüros gesagt. Der österreichische UNO-Diplomat begründete dies mit vorherigen jüngsten Bombardements, die zu weiteren Vertreibungen geführt hätten – mit der Zerstörung ganzer Wohnviertel und mit der anhaltenden Blockade von humanitärer Hilfe durch Israel. “Wir müssen diesen Irrsinn stoppen”, forderte er.
Türk sprach sich im “Morgenjournal” erneut dafür aus, zu diesem Zweck Druck auf die israelische Regierung auszuüben. In die seit Anfang März von Israel praktizierte Blockade von Hilfsgütern ist in den vergangenen Tagen zwar geringfügig Bewegung gekommen, aber nicht in dem Ausmaß, wie dies notwendig wäre, betonte Türk. Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte trifft laut Ö1 am Dienstag in Wien Vertreter der österreichischen Regierung. Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) hatte vor ein paar Tagen mit dem israelischen Regierungschef Benjamin Netanyahu telefoniert. Dabei stellte er klar: “Das Völkerrecht ist klar: Gaza muss palästinensisch bleiben, es darf keine Vertreibungen geben.”
Der Gaza-Krieg war durch den Großangriff der militanten Palästinenserorganisation Hamas und mit ihr verbündeter Kämpfer auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst worden, bei dem nach israelischen Angaben rund 1.200 Menschen getötet worden waren. 251 Menschen wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Als Reaktion auf den Hamas-Überfall geht Israel seither massiv militärisch im Gazastreifen vor. Dabei wurden nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die nicht unabhängig überprüft werden können, bisher rund 54.000 Menschen getötet.
Merz: Zivilbevölkerung exzessiv in Mitleidenschaft gezogen
Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat Israel unterdessen erneut in scharfen Tönen aufgefordert, das zuletzt gesteigerte militärische Vorgehen im Gazastreifen zurückzufahren. “Wir sind mehr als besorgt über die Intensivierung der militärischen Aktivitäten der israelischen Armee in Gaza, und wir sind bestürzt über das Schicksal der Zivilbevölkerung und das furchtbare Leiden”, sagte Merz laut der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag in der finnischen Stadt Turku.
“Die massiven militärischen Schläge der israelischen Armee im Gazastreifen lassen für mich keine Logik mehr erkennen, wie sie dem Ziel dienen, den Terror zu bekämpfen und die Geiseln zu befreien.” Was gerade in den vergangenen Tagen passiert sei, “das erscheint mir als nicht mehr zwingend notwendig zur Verteidigung des Existenzrechts Israels und zur Bekämpfung des Terrorismus der Hamas”. Die Zivilbevölkerung werde in einem Übermaß in Mitleidenschaft gezogen.
Merz wich in Turku aber der Frage nach Konsequenzen aus. Man sei im Dialog mit der israelischen Regierung. Deutschland stehe weiter für das Existenzrecht Israels ein und fordere die Freilassung der israelischen Geiseln, die sich in der Gewalt der Hamas befinden, sagte der CDU-Vorsitzende. In der deutschen Regierung werde intern über Konsequenzen beraten, sagte er auf die Frage nach den von dem Koalitionspartner SPD geforderten Ende der Waffenlieferungen. Man werde dann Entscheidungen treffen, die möglicherweise nicht öffentlich seien, fügte er in Anspielung auf den geheim tagenden Bundessicherheitsrat hinzu. Dieser genehmigt Waffenexporte. Ob Deutschland der Forderung einiger EU-Regierungen folgen wird, das EU-Israel-Assoziierungsabkommen auszusetzen, wollte Merz nicht sagen.
Auch der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) kritisierte Israel: Erforderlich sei auch im Kampf gegen den Terror eine Verhältnismäßigkeit, sagte er beim WDR-Europaforum. Er teile die Auffassung von Merz. Er telefoniere seit seinem Amtsantritt fast täglich mit dem israelischen Außenminister Gideon Saar und werde dies auch heute noch tun. Deutschland stehe zu Israel, aber “wir stehen auch zu den Menschen im Gazastreifen”, betonte Wadephul.
UNO: Fast 180.000 Vertriebene in nur zehn Tagen
Fast 180.000 Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen allein zwischen dem 15. und 25. Mai im Gazastreifen vertrieben worden, seit Israel seine Militäroffensive in dem Palästinensergebiet wieder verschärft hat. Die eskalierende humanitäre Krise sei äußerst alarmierend, hieß es am Dienstag laut Reuters in einer Mitteilung auf der Website der Internationalen Organisation für Migration (IOM), in der auf die Flüchtlingslagerkoordinierungsstelle CCCM verwiesen wird.
Insgesamt seien seit dem Zusammenbruch der Waffenruhe am 18. März fast 616.000 Menschen gezwungen gewesen, ihren Aufenthaltsort zu wechseln, viele von ihnen mehrfach, einige bis zu zehn Mal. Davor, also während der Feuerpause, seien mehr als eine halbe Million Menschen in ihre Wohnorte zurückgekehrt, um ihr Leben wieder aufzubauen. “Dieser fragile Fortschritt wurde nun wieder rückgängig gemacht, da durch verstärkte Militäroperationen erneut Familien aus den Gebieten vertrieben werden, in die sie erst vor Kurzem zurückgekehrt waren.”
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