Stefan Zelger (STF) berichtet aus der „Escola Ramon Llull“

“Mit Vorschlaghammer gegen Wahlurnen”

Sonntag, 01. Oktober 2017 | 18:00 Uhr
Update

Barcelona/Bozen – Die Abstimmung in Katalonien über die Unabhängigkeit der Region von Spanien ist angelaufen und der Zentralstaat geht mit aller Härte dagegen vor. Dies bestätigt auch Stefan Zelger, Landesleitungsmitglied der Süd-Tiroler Freiheit, aus Barcelona. „Die Stimmung ist weitgehend friedlich, aber die Lage ist sehr angespannt. Die Staatsmacht geht mit Vorschlaghammer auf Wahllokale los”, zeigt sich Zelger empört.

Stefan Zelger ist für die Süd-Tiroler Freiheit vor Ort in Kataloniens Hauptstadt dabei, um nach eigener Aussage “diese historischen Stunden in der Geschichte dieses stolzen Volkes zu verfolgen”. Sein als Pressemitteilung versandter Stimmungsbericht:

„Heute ab 9.00 Uhr sollten die Bürger Kataloniens darüber abstimmen, ob sie bei Spanien bleiben, oder eine unabhängige Republik werden wollen. Bereits um 6.00 Uhr morgens versammelt sich eine große Menschenmasse bei strömendem Regen vor einem Wahllokal im Zentrum Barcelonas. Als um 7.00 Uhr die ersten Wahlhelfer durch die Menge schreiten, bricht Applaus und Jubel aus, gefolgt von lauten Rufen ‚votarem, votarem‘, ‚wir werden abstimmen‘. Eine beeindruckende Manifestation der Demokratie. Dann kam die Staatsmacht”, berichtet Zelger.

Polizei und Separatisten bemühen sich um Deeskalation

“Gegen 8.00 Uhr ziehen knapp 20 Polizisten vor das Tor der Volksschule, in der gewählt werden sollte. Das Tor ist von einer großen Menschenmenge geschützt, die immer wieder Wahlzettel in die Luft hält und als Zeichen des friedlichen Protests die blanken Hände zum Himmel reckt. Die Polizisten harren zunächst passiv vor der Menge aus. Sie tragen schwere Schutzkleidung, Schusswaffen, Schilde, Schlagstöcke und große Tränengaswerfer. Die mehrere hundert Menschen bleiben ruhig, kein Laut ist zu hören. Eine unheimliche Atmosphäre. Die Ruhe vor dem Sturm. Wenig später riegelt die Polizei mit ca. 200 Mann die Straße, in der das Wahllokal steht, von beiden Seiten her ab. Die Beamten gehen nun hart gegen die friedlichen Wähler vor und versuchen das Tor zu stürmen. Menschen werden aus der Menge gezogen und zum Teil mit Schlagstöcken geschlagen. Über uns kreisen Polizeihubschrauber. Die Menge votiert lautstark ‚No pasarán‘, sie werden nicht durchkommen, den alten Schlachtruf der Republikaner gegen die Faschisten im Bürgerkrieg. Die Lage droht zu eskalieren. Die Wähler bleiben aber immer friedlich und auch die Polizei versucht, nicht weiter an der Eskalationsspirale zu drehen”, schildert Zelger die angespannte Lage.

Doch dann: “Um 10.00 Uhr stürmen gut 30 Polizisten mit Vorschlaghammer einen Nebeneingang zur Schule und beschlagnahmen die Wahlurnen. Beamte in Zivil rennen unter lautstarken Pfiffen mit den Urnen davon und werfen sie hastig in Zivilfahrzeuge. Demonstranten versuchen noch durch eine Sitzblockade die Abfahrt zu verhindern, doch die Beamten können mit den vermeintlichen Corpus Delicti entkommen. Mit Tränen in den Augen skandieren junge Menschen ‚verschwindet‘, als sich die Staatsmacht wieder zurückzieht.“

Für die Süd-Tiroler Freiheit sind diese Bilder aus dem Herzen eines europäischen Staates eine Schande. „Wer mit Vorschlaghammer und Schlagstock gegen eine demokratische Abstimmung vorgeht, delegitimiert sich selbst und hat schon verloren. Der Wunsch nach Freiheit wird in den Katalanen nach diesem Tag und nach diesen Bildern größer sein, als jemals zuvor. Kein Land kann auf Dauer das Recht auf Selbstbestimmung verwehren, wenn das Volk es will. Spanien Katalonien nicht, Italien Süd-Tirol nicht“, unterstreicht Zelger abschließend.

SHB: Spaniens Verhalten ist nicht tolerierbar

“Der Südtiroler Heimatbund toleriert auf keinen Fall das Verhalten der spanischen Zentralregierung und der Sicherheitskräfte im Hinblick auf das Referendum rund um die potentielle Unabhängigkeit Kataloniens”, so Obmann Roland Lang.

“Wer mit Gummiknüppeln auf friedliche Menschen einschlägt, Wahlurnen beschlagnahmt, des Weiteren Leute beim Wählen hindert, hat von Demokratie und Menschenrechten null und gar nichts verstanden. Diese Aktion ist daher niemals zu dulden und ist ein Rückfall in das totalitäre Franco-System, in dem Spanien über weite Strecken des letzten Jahrhunderts gepeinigt und geknebelt wurde”, so der Südtiroler Heimatbund(SHB).

“Dass die Europäische Union ihrem Grundsatz „Einheit durch Vielfalt“ widerspricht und tatenlos zusieht, schlägt dem ganzen Fass den Boden aus. Eigentlich wäre es jetzt richtig, Spanien aus der europäischen Familie zu werfen. Ohne Vorwarnung, ohne Sanktionen. Denn selbst wenn das Land sich bei der Ratifizierung der Helsinki-Akte 1977 der Stimme enthalten hat, darf es keine undemokratische Haltung an den Tag legen”, der Südtiroler Heimatbund weiter.

“Die Guardia Civil hat durch ihr brutales Vorgehen sich schwerer Straftaten schuldig gemacht. Wenn sich morgen der einzelne Polizist mit dem Hinweis auf den Befehlen seiner Vorgesetzten verteidigen wird, so sei ihm bereits heute zugerufen: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“. Das iberische Verhalten ist ein Schlag in das Gesicht jedes Demokraten. Mehr noch: Es wird wohl die letzten Katalanen, die sich nicht sicher waren, ob und wie sie zu wählen haben, zu einem „Los von Madrid“ bewogen haben. Auch diese Menschen werden nun Madrid die „kalte Schulter“ zeigen und werden die Abstimmungsergebnisse wesentlich beeinflussen”, schließt Lang.

 

WAS BISHER BERICHTET WURDE:

Barcelona – “Am Sonntag stimmen die Katalanen, trotz heftigem Widerstand Spaniens, über ihre Unabhängigkeit ab. Am Vorabend dieses historischen Tages ist die Stimmung in der Hauptstadt Barcelona gespannt, aber friedlich und ruhig”, so Stefan Zelger, Mitglied der Landesleitung der Süd-Tiroler Freiheit, der vor Ort die Geschehnisse beobachtet.

“Spaniens Militärpolizei „Guardia Civil“ hält sich (noch) zurück und ist in der Stadt kaum präsent. Dafür aber die Zivilgesellschaft Kataloniens. Exemplarisch dafür: die Helden von der „Escola Ramon Llull“”, so Stefan Zelger weiter.

“In wenigen Stunden soll u.a. in Schulen und Kindergärten über die Unabhängigkeit Kataloniens abgestimmt werden. Spanien hat allen Schuldirektoren mit Verfahren gedroht, wenn sie ihre Schule für die Wahl freigeben sollten. Die Polizeikräfte sind zudem angehalten dafür zu sorgen, dass die Wahllokale erst gar nicht öffnen können. Doch das schreckt die Katalanen nicht. Stefan Zelger hat die Schule „Ramon Lull“ im Zentrum Barcelonas besucht und konnte sich selbst davon überzeugen. Über 200 Menschen allen Alters haben sich in und vor der Schule versammelt, um „ihr“ Wahllokal notfalls mit friedlichen Mitteln vor der Staatsmacht zu verteidigen”, berichtet Stefan Zelger.

“Wir werden die ganze Nacht hierbleiben und falls die ‚Guardia Civil‘ kommt, werden wir friedlich dagegen halten“, betont Antoni, ein Mann mittleren Alters aus Barcelona. Bela pflichtet bei: „Wir sind hier um die Menschenrechte zu verteidigen. Wir haben der Welt immer gezeigt, dass wir friedlich demonstrieren. Wir kämpfen hier nur um unser Recht zu wählen!“ Maria Clara besetzt die Schule, in der sie normalerweise Englisch unterrichtet. Sie sei hier, weil sie endlich über die Unabhängigkeit abstimmen möchte und sie zeigt sich kämpferisch: „Wir werden heute hier schlafen und wir werden morgen wählen. Sicher!“ Die Süd-Tiroler Freiheit zeigt sich beeindruckt von so viel Zivilcourage und ist überzeugt, dass das Volk Kataloniens über seine Zukunft abstimmen wird”, so Stefan Zelger.

„Auch wenn es Spanien gelingen sollte, die Abstimmung morgen zu sabotieren, so wird der Wille nach Unabhängigkeit in den Katalanen nicht zu brechen sein. Diese Massenbewegung lässt sich, gerade nach dem überzogenen Eingreifen Spaniens, nicht mehr aufhalten. Die Katalanen zeigen der Welt und Süd-Tirol, was man mit friedlichen Mitteln, auch gegen Staatsrepression, in die Wege leiten kann“, betont Zelger abschließend.

Atz-Tammerle: Es braucht neuen Zugang zu Selbstbestimmungsrecht in Europa

“Mit allen Mitteln hat Spanien versucht das Selbstbestimmungs-Referendum in Katalonien zu verhindern. Doch alle Verbote, Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und sonstigen Einschüchterungsversuche haben nichts genutzt. Die Katalanen lassen sich das Recht auf demokratische Wahlen nicht verbieten und stimmen heute über ihre Unabhängigkeit von Spanien ab. Damit schafft Katalonien einen Präzedenzfall, der auch Süd-Tirol die Möglichkeit eröffnet, sich von Italien zu befreien”, so STF-Abgeordneter Sven Knoll in einer Aussendung.

Spanien solle sich hüten, die Wähler mit Polizeigewalt von den Wahlurnen fernzuhalten. Ein solches Verhalten wäre laut Knoll durch nichts zu rechtfertigen. Kein Staat und keine Verfassung habe das Recht, ein Volk einzusperren und dessen Land zu besetzen.

“Anstatt die Selbstbestimmung zu bekämpfen, sollten derartige Abstimmungen ─ so wie in Schottland ─ bereits im Vorfeld auf dem Verhandlungswege abgestimmt und in geregelte Bahnen gelenkt werden, damit alles friedlich abläuft. Sollte der Zentralstaat nicht gewillt sein in Verhandlungen zu treten, wäre es die Aufgabe der EU, als Vermittler aufzutreten und das Recht auf Selbstbestimmung zu verteidigen”, so STF-Abgeordneter Zimmerhofer.

Das undemokratische Verhalten der spanischen Regierung, welche die Abstimmung mit allen Mitteln zu verhindern versuche, zeige, dass es einen neuen Zugang zum Selbstbestimmungsrecht in Europa brauche. Der Wunsch eines Volkes nach Unabhängigkeit und die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts ließen sich nicht verbieten. Nicht der Wunsch nach Freiheit sei eine Gefahr für Europa und den Frieden, sondern die gewaltsame Unterdrückung der Freiheit, so die dritte Landtagsabgeordnete der STF, Myriam Atz-Tammerle.

 

Von: ka