Neue Online-Führungen zu Materialien des Brenner-Archivs

100 Jahre lang modern: Petras Aufzeichnungen

Dienstag, 08. Juni 2021 | 15:50 Uhr

Innsbruck – Das Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck präsentiert virtuelle Führungen rund um das Buch „Petras Aufzeichnungen“ von Paula Schlier aus dem Jahr 1926. Anhand von Archivmaterialien zeigen Ursula A. Schneider und Annette Steinsiek, was alles in diesem literarisierten Zeitbericht über die Jahre 1915 bis 1924 steckt, über eine „Neue Frau“, die mit Bubikopf und Schreibmaschine versuchte, sich in den angeblich goldenen 1920-er Jahren die Welt zu erobern.

Nach den virtuellen Führungen über den Dichter Georg Trakl und seinen Nachlass präsentiert das Forschungsinstitut Brenner-Archiv nun eine weitere Online-Reihe zum Buch „Petras Aufzeichnungen“ von Paula Schlier, das 2018 neu aufgelegt wurde. Die dreiteilige Videoreihe schließt auch zeitlich an die im Frühjahr präsentierte Trakl-Reihe an: Georg Trakl hatte im November 1914 seinem Leben ein Ende gesetzt, nachdem er über dem Leid der Verwundeten in der Schlacht bei Grodek psychisch zusammengebrochen war. Paula Schlier (1899–1977) hat sich 1915 mit 16 Jahren als freiwillige Kriegskrankenschwester gemeldet und arbeitete als Kriegspflegerin im Lazarett, an der sogenannten „Heimatfront“.

Ein auf dem weißen Tisch allein liegender blutiger Fuß

Auch die junge Ich-Erzählerin von „Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit“ berichtet im ersten Kapitel über grauenhafteste Kriegsversehrungen. Ihr Tun als Krankenschwester erscheint ihr noch dazu als zwiespältig – denn Heilung dient in Kriegszeiten allein der „Kriegsverwendbarkeit“. Wie kann ein so „verwundetes“ weibliches Leben fortgesetzt werden? Schlier war im Kriege zur unbestechlichen Demokratin und Pazifistin geworden. Wie Schlier bleibt die junge Ich-Erzählerin aus bürgerlichem Haus ohne Ausbildung und endet, nach dem entbehrungsreichen Versuch, Journalistin zu werden, wie tausende andere Frauen auch: Sie wird Stenotypistin – „Tippfräulein“, wie man damals sagte, eine schlecht bezahlte und schlecht behandelte Angestellte männlicher Redakteure.

#metoo 1926

Paula Schlier war die erste SchriftstellerIn, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz explizit aufgriff, die „schallenden Schläge“ auf die „Rückseite“ der Sekretärinnen, die anzüglichen Reden, die sexuell herabwürdigenden Zeitungsartikel der sogenannten „Demokraten“ in den sich fortschrittlich gebenden Redaktionen. Schlier schreibt wie emotionslos – klar auf den schmerzlichen Punkt gebracht. „‘Petras Aufzeichnungen‘ ist eines der ersten Bücher der Neuen Sachlichkeit“, sagt Annette Steinsiek vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Sie erklärt im zweiten Video der virtuellen Führung, was es damit auf sich hat.

Undercover im „Völkischen Beobachter“ und Schmähung durch die Nazis

Schon Anfang 1923 hat Schlier auf die Gefahren durch die Nationalsozialisten hingewiesen. „Ihre diesbezüglichen Zeitungsartikel haben wir in einem Online-Portal zugänglich gemacht“, erzählt Steinsieks Kollegin Ursula Schneider. Im Herbst 1923 heuerte Schlier in der Nazi-Zeitung „Völkischer Beobachter“ an. Eine junge, blonde Sekretärin galt den dort tätigen Männern per se als politisch unterbemittelt, sie jedoch will deren hysterische Naivität und Gewaltbereitschaft an die Öffentlichkeit bringen. Im „Völkischen Beobachter“ erlebt sie den Hitler-Putsch – und zeichnet auf, was sie sieht und hört. Nachdem das Buch 1926 erschienen war, haben sich die Nazis mit einer Rezension gerächt. Und 1942 die Gestapo ausgeschickt.

1923 bereits warnte Schlier vor Hitler, im Buch von 1926 umso eindringlicher

„Petras Aufzeichnungen“ war 1926 eine literarische Sensation, die jedoch bald vergessen wurde. Was dazu beigetragen hat, erläutern die Innsbrucker Wissenschaftlerinnen im dritten Teil der Führungsreihe. Hier wird auch das Phänomen der „Neuen Frau“ in Literatur und Kultur erklärt – Schlier hat die junge, berufstätige, wirtschaftlich unabhängige Frau literarisch porträtiert. Die dargestellten Frauen und Mädchen versuchen ihren eigenen Weg zu finden, viele arbeiten sich letztlich ab an der Armut und an Rollenklischees, aber auch an der zynischen Dummheit, der Gier und der Gewalttätigkeit der Menschen, vor allem der Männer. Zerschossene Körper von Soldaten, tägliche sexuelle Erniedrigung am Arbeitsplatz, Kindesmissbrauch, um ihr Eigentum gebrachte Bauern und die Sehnsucht nach einem besseren Leben für alle – die Herausgeberinnen bekennen: „Wir haben im Zuge der Neuausgabe sowie für den Dreh der Serie manche Passagen inzwischen wohl dutzende Male gelesen – aber noch immer bekommen wir Gänsehaut.“

Die Tiroler Schauspielerin Ulrike Lasta liest in der Video-Reihe Auszüge aus dem Buch. Die virtuellen Führungen sind für die Schule und den universitären Unterricht geeignet, da sie gezielt auf (literatur-)geschichtliche Aspekte genauer eingehen.

Von: mk