Dušan David Pařízek reduziert Kraus' "Marstheater" auf sieben Figuren

“Die letzten Tage der Menschheit” in Salzburg gefeiert

Samstag, 26. Juli 2025 | 05:05 Uhr

Von: apa

Ein von der medialen Berichterstattung verzerrtes Weltbild, ein paar fanatische Patrioten und ein Zweifler auf dem Abstellgleis: Viel mehr braucht es nicht, um den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zu beschreiben. Mit seiner Interpretation von Karl Kraus’ “Die letzten Tage der Menschheit” hat der tschechische Regisseur Dušan David Pařízek bei den Salzburger Festspielen am Freitagabend auf der Pernerinsel in Hallein die Inszenierung der Stunde abgeliefert.

Die Koproduktion mit dem Burgtheater verdichtet das zwischen 1915 und 1922 entstandene Mammutwerk, das mit 220 Szenen, 1.114 Rollen und 137 Orten als “Marstheater” als unaufführbar gilt, auf etwas mehr als drei Stunden (inklusive Pause). Hat Paulus Manker das Stück 2018 in der Serbenhalle in Wiener Neustadt noch als siebenstündiges Polydrama in seiner Vielschichtigkeit als pompöses Weltkriegsdrama in Szene gesetzt, konzentriert sich Pařízek mit nur sieben Schauspielerinnen und Schauspielern auf jenen Kern, der mehr als 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg deutlich macht: Der Kipppunkt ist nicht weit.

Verdrehte Worte auf der großen Leinwand

Im Zentrum der Bühne steht ein riesiger Kubus, der vor allem in der ersten Hälfte des Abends via Overhead- und Live-Video-Projektionen bespielt wird: Zeitungsberichte vom Attentat auf den Thronfolger erinnern parallel zu den “Extraausgabe”-Rufen des Zeitungsausrufers an den historischen Urknall, während Marie-Luise Stockinger sich als Kriegsberichterstatterin Alice Schalek in Stellung bringt: Mit Kamera und Mikrofon ausgestattet begleitet sie das Geschehen live, holt Protagonist:innen vor die Kamera und verdreht ihnen mit größter Genugtuung das Wort im Mund.

Ihr erstes Opfer ist die Schauspielerin Elfriede Ritter, die soeben aus Russland zurückgekehrt ist und zum Leidwesen der Reporterin von keinerlei Repressalien zu berichten weiß. Dörte Lyssewski wird im Laufe des Abends als weiblicher Part des Ehepaares Ritter-Schwarz-Gelber zur Höchstform auflaufen und gemeinsam mit ihrem deutschen Politiker-Ehemann (Michael Maertens) jene Gesellschaftsschicht verkörpern, die den Krieg jenseits der Front erlebt und sich zwischen politischer Agenda und Wohltätigkeitsgetue verliert.

Ein schweizerdeutscher Nörgler als Kommentator

Mit breitem wienerischen Dialekt führt Stockinger durch den Abend, begleitet die aufkommende Kriegseuphorie, die brenzligen Situationen an der Front und verkörpert dabei stets die Rolle der Medien als Kriegstreiber, während Elisa Plüss (als schweizerdeutsch sprechender) Nörgler und “Fackel-Kraus” betitelter Kommentator meist am Rande steht, um das Geschehen einzuordnen (und den Overhead-Projektor zu bedienen, mit dem erstaunliche Schattenspiele veranstaltet werden). Wie sehr die Propaganda wirkt, zeigt Branko Samarovski als stets rechtschaffener, aber auch naiver Patriot, der schließlich die wirtschaftliche Lage in Zeiten des Krieges für sich nutzt, aber in dem Moment, als auch sein eigener Sohn eingezogen wird, zu zweifeln beginnt.

Mit starkem rheinischen Dialekt und dauerkoksend bringt Felix Rech als Feldkurat die fanatische Komponente des Krieges auf den Punkt, während Peter Fasching den Abend an unterschiedlichen Instrumenten nicht nur musikalisch höchst abwechslungsreich untermalt, sondern auch verschiedene Rollen vom österreichischen Beamten bis zum brutalen Vergewaltiger verkörpert.

Kapitulation vor der Unsagbarkeit

Nach der Pause entfaltet der zunächst so euphorisch begrüßte Krieg seine volle Grausamkeit, der geheimnisvolle Kubus wird nach und nach zum Gerippe. Pařízek zelebriert die Unsagbarkeit mit dem exzessiven Einsatz des Vorhangs, der das Publikum nicht nur einmal zum vorzeitigen Schlussapplaus verleitet. In kurzen Szenen, in denen der Vorhang gefährlich die Mitte der Bühne erreicht, geben die Protagonist:innen noch einmal alles. Das blutig erkaufte Ende einer Ära deutet sich an. Am Ende steht Ratlosigkeit, wie mit dem neuen Zeitalter umzugehen ist.

Pařízek ist nicht zuletzt dank des herausragenden Spiels des Ensembles, zwangsläufig starken Strichen und dem Fokus auf einzelne Typen ein Abend gelungen, an dem man weder von Karl Kraus gehört noch “Die letzten Tage der Menschheit” gelesen haben muss. Es ist die Analyse einer beginnenden Apokalypse, die man sich eigentlich nicht noch einmal wünschen möchte. Heftiger Applaus mit Standing Ovations beendete den Abend.

 

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