Von: bba
Meran – Kunst Meran geht für obdachlose Menschen mehrfach auf die Straße: Am Dienstag fand erstmals im öffentlichen Raum in der Sparkassenstraße eine Podiumsdiskussion über Obdachlosigkeit statt. In Meran und in Bozen hängen zudem großflächige Plakate, die auf die Missstände von wohnungs- und obdachlosen Menschen in Bozen hinweisen. Und noch bis 24. Oktober ist bei Kunst Meran, im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Kunst ist. Arte è.“, das Projekt „Obdachlos in Bozen, 2020–2021“ zu sehen. Die Fotos von Ludwig Thalheimer sind mit Interviews verknüpft, die Susanne Waiz in Wien gemacht hat: Denn Obdachlosigkeit ist weltweit und sie macht auch vor einer Stadt wie Wien nicht halt, das für seinen kommunalen sozialen Wohnbau bekannt ist.
Eines ist nach der Podiumsdiskussion klar: Um etwas zu bewegen, braucht es den politischen Willen. Es braucht Zahlen, eine Vision und eine Strategie für eine langfristige Lösung. Am Podium vor Kunst Meran saßen fünf Menschen, die sich für obdachlose Menschen engagieren: Daniela Unterholzner, die Geschäftsführerin des neunerhaus in Wien, einer Sozialorganisation, die obdachlosen und armutsgefährdeten Menschen ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben ermöglicht. Alexander Nitz vom Haus der Solidarität in Brixen, das rund 50 wohnungslosen Menschen Unterkunft, Verpflegung und Unterstützung bei der Arbeitssuche bietet.
Ermira Kola, die in Sozialorganisationen gearbeitet hat und sich weiterhin freiwillig und im Rahmen der Alexander-Langer-Stiftung für Geflüchtete einsetzt. Paul Tschigg, der sich seit Jahren im Rahmen verschiedener Vereine und Projekte um obdachlose Menschen kümmert. Ludwig Thalheimer, der als sozial engagierter Fotograf nicht in erster Linie auf der Suche nach Bildern ist, sondern zuerst die Menschen dahinter kennenlernen will und immer wieder Hilfsbrücken für sie schlägt. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Journalistin Maria Lobis, die sich ebenfalls im Bereich Obdachlosigkeit engagiert.
Initiiert wurde die Podiumsdiskussion im Rahmen der Kunstausstellung von der Kuratorin und Architektin Susanne Waiz. Sie hat vor Jahren einen jungen Afghanen in der Landeshauptstadt kennengelernt, dem es sehr schlecht ging, und nahm sich seiner an. Heute hat der Mann Arbeit und Unterkunft. Susanne Waiz hat seither viele Geflüchtete unterstützt. Alexander Nitz vom Haus der Solidarität betonte bei der Diskussion, dass viele Südtiroler überzeugt seien, dass Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit, ungesichertes und ungenügendes
Wohnen ein individuelles Problem sei. „Die Menschen sagen, die Betroffenen seien selbst schuld, wenn sie ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen.“ Er berichtete von Ängsten, Vorurteilen und Rassismen, denen die ausländischen Gäste immer wieder begegnen.
Daniela Unterholzner informiert, dass die Auslöser für Wohnungslosigkeit vielfach kritische Lebensereignisse wie Scheidung, Krankheit, Arbeitsplatzverlust, Flucht und Auszug von den Eltern sind. Das sei aber nur eine Seite: Neben diesen individuellen Ursachen gebe es strukturelle Ursachen, die dazu führen, dass Menschen in eine Phase der Wohnungs- oder Obdachlosigkeit eintreten. Zentrale Faktoren sind steigende Mietpreise bei nicht entsprechend ansteigenden Reallöhnen. Im Juni dieses Jahres haben die Sozialminister der Europäischen Staaten in Lissabon die Deklaration der Europäischen Union zur Beendigung von Obdachlosigkeit unterschrieben, in der sie sich verpflichten, dass bis 2030 in Europa niemand mehr auf der Straße leben muss. Um das zu erreichen, muss die Politik den gegenwärtigen Status quo rapide ändern: Rund 500 Menschen leben in Südtirol derzeit auf der Straße. Insgesamt gilt: je länger obdachlos, desto unwahrscheinlicher die Rückkehr.
Auch in Südtirol führen viele Wege in die Obdachlosigkeit. Da gibt es den Mann, der sein Haus verliert, zum Beispiel wegen Trennung oder Scheidung, und zu trinken beginnt. Da gibt es eingewanderte Menschen, die Fuß zu fassen versuchen, aber auf der Straße landen. Und immer wieder gibt es psychische Probleme, Gewalt in der Familie, Alkohol, Drogen. Dazu kommen strukturelle Probleme wie Immobilienspekulation, die dazu führt, dass unzählige Wohnungen leer stehen. Der Tourismus und die Förderpolitik des Landes führen dazu, dass die Miet- und Wohnungspreise so hoch sind wie in den Metropolen München oder Mailand.
Ermira Kola berichtete von der verzweifelten Suche nach Unterkünften für Flüchtlinge, unter anderem mit psychischen Problemen, von Menschen, die aus der Psychiatrie direkt auf die Straße entlassen werden, von ungenügender Unterstützung seitens öffentlicher Dienste. Ludwig Thalheimer hat in den vergangenen Jahren provisorische Unterkünfte in Bozen fotografiert und dabei Menschen getroffen, die verzweifeln, weil sie keine Chance auf Wohnen haben, weil sie im Winter bei Minusgraden fast erfrieren. Diese Zustände dürfe es im reichen Südtirol nicht geben, betonte er. Der engagierte Fotograf ist immer wieder überrascht, wie wenig die Bevölkerung über dieses Problem vor der eigenen Haustür Bescheid weiß. Das Thema werde ausgespart, an den Stadtrand gedrängt und kaschiert.
Das unterstrich auch der seit Jahren freiwillig engagierte Paul Tschigg. Er war maßgeblich an der Umsetzung des Winterhauses für 50 obdachlose Menschen im Winter 2019/2020 in der Bozner Carducci-Straße beteiligt, auch in der Tagesstätte im Pfarrheim Bozen im vergangenen Winter hat er gemeinsam mit Ludwig Thalheimer und Caroline von Hohenbühel die Fäden der rein auf zivilgesellschaftliches Engagement zurückzuführenden Initiative in der Hand gehabt. Er betonte: Freiwillige seien wichtig, aber Freiwillige sind nicht dazu da, Basisdienste abzudecken und soziale Löcher zu stopfen, weil Politik und Verwaltung nicht reagieren wollen und Winter für Winter Notlösungen aus dem Boden stampfen, die erstens teuer und zweitens nicht nachhaltig sind.
„Es braucht ein Konzept. Es braucht politischen Willen. Es braucht endlich Mut und Weitsicht, diesem Phänomen entgegenzutreten, zusammenzuarbeiten und allen Menschen das Recht auf Wohnen zu gewährleisten“, richteten die Podiumsteilnehmer einen flammenden Appell an die Politik. Denn der nächste Winter stehe vor der Tür.