Von Raub und Drogen bis zum Meisterwerk

Der rätselhafte Wandel der Judee Sill – VIDEO

Montag, 22. Dezember 2025 | 08:06 Uhr

Von: mk

Los Angeles – Das Leben von Judee Sill zählt wohl zu traurigsten Geschichten Hollywoods. Ihr Stern erstrahlte nur kurz Anfang der 1970-Jahre, um dann wieder zu verblassen. Trotzdem hinterließ sie eine unauslöschliche Spur. Heute wird ihr merkwürdiges Schicksal und vor allem ihre Musik nach und nach wieder entdeckt.

Von ihrer Kindheit mit einer Alkoholikerin als Mutter über ihre Überfälle auf Schnapsläden, ihre Heroinsucht, einem spirituellen Erlebnis im Gefängnis bis hin zu ihrem Entschluss, Sängerin zu werden, klingt ihre Biografie eher wie das Drehbuch eines Roadmovies. Doch dann folgte erneut der Absturz: Sie wurde rückfällig und starb an einer Überdosis im Alter von nur 35 Jahren.

Warum sie kommerziell nie Erfolg hatte, scheint heute vielen ein Rätsel. Vielleicht lag es an ihrer unscheinbaren und nüchternen Art – mit ihrer Brille erinnerte sie eher an eine Bibliothekarin als an einen Popstar –, vielleicht lag es an ihrem Hang zum Okkulten und den spirituellen Untertönen in ihren Songs, die nicht radiofreundlich genug waren.

Trotzdem ist ihre Musik genauso ausgeklügelt und raffiniert wie die von Joni Mitchell and Laura Nyro. Ihre sehr persönlichen Texte, die religiösen Anspielungen, die sorgfältigen Kompositionen und ihre klare Stimme machten Kenner bereits damals hellhörig.

Judee Sill wurde am 7. Oktober 1944 in Oakland geboren. Nachdem ihr Vater 1952 an einer Lungenentzündung gestorben war, heiratete ihre Mutter einen Trinkgenossen. Um dem familiären Elend zu entgehen, riss Judee Sill noch als Teenagerin von zu Hause aus, schloss sich einer Gang an und beteiligte sich an Raubüberfällen auf Schnapsläden. Nachdem sie geschnappt worden war, wies man sie in eine Erziehungsanstalt ein.

Später schrieb sich Judee Sill am Los Angeles Valley College für ein Musikstudium ein. Als sie nebenbei als Barmusikerin arbeitete, begann mit dem Konsum harter Drogen und wurde rasch heroinsüchtig. Sie heiratete den ebenfalls drogenabhängigen Pianisten Bob Harris, der 2001 an einer Überdosis verstarb. Um sich während ihrer Ehe über Wasser zu halten und ihre Sucht zu finanzieren, prostituierte sich Sill und beging mehrere Einbrüche.

Weil sie beim Scheckfälschen erwischt worden war, landete sie schließlich im Gefängnis. In ihrer Verzweiflung wollte sie ihren älteren Bruder anrufen, doch dieser war inzwischen an einer Leberinfektion gestorben. Ihre Zeit allein im Gefängnis erwies sich als Wendepunkt. Sie wurde clean und entschloss sich, Songwriterin zu werden und ihr Ziel konsequent zu verfolgen.

Nach der Lektüre religiöser und mystischer Bücher schrieb sie Lieder mit Halleluja-Refrains. David Geffen, der mit Joni Mitchell und Carole King weitere Songschreiberinnen in seinem Programm hatte, nahm Judee Sill für seine Firma Asylum Records unter Vertrag. Als ersten Song nahm sie „Jesus was a Crossmaker“ auf, der von Graham Nash produziert wurde – ein Lied, das nicht von Religion, sondern vom Ende einer Beziehung zu einem Mann handelt.

Noch heute klingt das Album so brillant wie das Beste, was die Singer-Songwriter-Szene von damals zu bieten hatte – und doch wirkt es seltsam eigenwillig und zeitlos, durchzogen von religiöser Symbolik, poetischen Texten und üppigen Orchestrierungen. Judee Sill selbst taufte ihren Sound „Country-Cult-Baroque“. Ihr Debütalbum ist eine vollendete Mischung aus Folk, Country, Gospel, Pop und Klassik.

Als das Interesse von Asylum Records angesichts mäßiger Verkaufszahlen schwand, kehrte Sill erneut ins Studio zurück, um ihr zweites und letztes Album „Heart Food“ aufzunehmen. Dieses Mal übernahm sie die Orchestrierung und das Arrangement selbst und wurde dabei von Henry Lewy, dem Produzenten von Joni Mitchell, unterstützt.

Dabei handelt es sich zweifellos um eine ehrgeizigere Platte, viele betrachten das Werk als ihr Meisterstück, was besonders im finalen Titel „The Donor“ mit seinen unglaublich komplexen Chorälen deutlich wird. Im Kontrast dazu steht die schlichte, klavierbegleitete Ballade „The Kiss“ – ihr wohl bewegendstes Lied.

Die Presse reagierte begeistert, doch auch bei „Heartfood“ ließ der kommerzielle Erfolg zu wünschen übrig. Ein Streit, den sie sich mit Geffen lieferte, begrub ihre Karriere endgültig. 1974 erlitt sie einen Rückfall und begann wieder mit dem Konsum von Heroin. Ihr drittes Album „Dreams Come True“erschien nicht mehr, obwohl acht Stücke fertig produziert worden waren, und Judee Sill verschwand aus der Musikszene.

Obwohl Freunde von ihr behaupteten, sie habe bis zuletzt an ihrer Musik und ihrem Traum festgehalten, waren ihre letzten Jahre so tragisch wie die ersten. Im November 1979 starb Judee Sill an einer Überdosis. Zwei Tage später wurde sie leblos in ihrem Appartement aufgefunden.

Doch auch ihr Tod bleibt rätselhaft: Während offiziell von einer Verzweiflungstat berichtet wurde, gehen manche davon aus, dass Judee Sill mehrere Autounfälle hatte und unter Schmerzen litt. Aufgrund ihrer Drogenvergangenheit und ihren Vorstrafen hätten sich Ärzte geweigert, ihr Medikamente zu verschreiben. Dies soll sie erneut in die Arme harter Rauschmittel getrieben haben. Bekannte vermuteten demnach, dass es sich bei ihrem Tod um einen Unfall handelte.

Was immer auch die Wahrheit sein mag – die Musik von Judee Sill lebt auch heute noch weiter. Florence Welch, die Frontsängerin von Florence +The Machine, hatte erst heuer im November erklärt, sie habe sich bei der Produktion ihres jüngsten Albums „Everybody Scream“ unter anderem von Judee Sill inspirieren lassen.

25 Jahre nach Sills Tod erschienen die acht noch nicht veröffentlichten Lieder zusammen mit Demo-Aufnahmen und nicht verwendeten Versionen als Doppelalbum. Dann wurden ihre ersten beiden Platten unter dem Namen „Abracadabra“ als Doppelalbum wiederveröffentlicht. 2007 veröffentlichte die BBC die Aufnahmen ihrer Konzerte in den Jahren 1972 und 1973.

Judee Sills Werk mag vergessen worden sein – wie ein verlorener Schatz, der reif ist, wieder endteckt zu werden. Sie mag gelitten haben, doch ihr Geist lebt weiter – vor allem, wenn man ihrer Musik Glauben schenkt. Ihre Lieder, die voller Licht und Hoffnung sind, klingen ambitioniert und vertraut zugleich und sie erinnern uns daran, was alles möglich ist.

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