Von: apa
Mit ihrem Romandebüt “Der Russe ist einer, der Birken liebt” erregte Olga Grjasnowa 2012 Aufsehen. Mittlerweile ist die in Baku geborene Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig Sprachkunst-Professorin an der Wiener Angewandten. Heute, Dienstag, stellt sie im Literaturhaus Wien ihren fünften Roman vor: “Juli, August, September” erzählt vom Versuch einer jungen Frau, mehr über ihre jüdische Familie herauszufinden, während sie möglicherweise ihren Mann verliert.
Die Icherzählerin Ludmilla, von allen Lou genannt, könnte eigentlich zufrieden sein. Die Kunsthistorikerin war als Galerie-Mitarbeiterin in New York erfolgreich, kann es sich nun in Berlin aber als Gattin des international gefragten Konzertpianisten Sergej leisten, vorübergehend leiser zu treten und sich auf die gemeinsame Tochter Rosa sowie ihr Buch über die Auswirkungen von Aids auf die Kunstszene zu konzentrieren. Und doch ist da eine Unruhe, die Lou das Leben schwer macht.
Einerseits ist da ihre Mischpoche, die aus der Sowjetunion stammende und heute weit verstreute jüdische Herkunftsfamilie, mit der sie so manche Rechnung offen hat. So möchte sie etwa herausfinden, warum sich die Überlebensgeschichten ihrer Großmutter Rosa und ihrer Großtante Maya, die als Kinder in Weißrussland als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebten, in deren Erzählungen so sehr voneinander unterscheiden. Andererseits ist da eine offensichtliche Lebenskrise von Sergej, der zwar zu den Salzburger Festspielen eingeladen ist, sich aber zurückzieht wie nie zuvor. Hat er künstlerische Schaffenszweifel oder eine Freundin? Bahnt sich da eine Scheidung an?
Lou ist verunsichert – und fährt mit Mutter und Tochter nach Gran Canaria, wo Maya in einem Ferienresort mit der Familie ihren 90. Geburtstag feiert. Dort klärt sich freilich nichts. Grjasnowa schildert die Hotelanlage mit hintergründigem Witz als Sinnbild für die dort zusammenkommende Familie: Oberflächlich betrachtet intakt, beim näheren Hinsehen aber voller Risse und Fassadenschäden. Die Mutter hält das nicht lange aus, reist früher ab – und bekommt ihre Enkelin mitgegeben. Lou möchte endlich ein klärendes Gespräch mit ihrer Großtante und reist ihr, als dieses im Ferienambiente nicht möglich ist, nach Israel nach. Der Schauplatz wechselt nach Tel Aviv.
Jüdische Identität heute und die auch nach Generationen weiter nachhallende Tragödie der Shoah stehen im Mittelpunkt dieser Geschichte, die manche Parallelen zur Familiengeschichte der 1984 geborenen Autorin aufweisen dürfte. Am intensivsten gelingt Grjasnowa jedoch jener Strang, der die Zweifel am Fortbestand der vor sieben Jahren geschlossenen Ehe der Erzählerin beschreibt. Was ihren Mann, der sein Telefon nicht mehr abhebt, in seinem Innersten antreibt, ist für Lou ein Rätsel – die selbstbewussten und zielgerichteten Handlungen, die er setzen würde, um die ihm zum Interview nach Salzburg nachgereiste Magazin-Journalistin ins Bett zu bekommen, kann sie sich dagegen schmerzhaft detailreich vorstellen.
Für die familiäre Vergangenheit und die private Gegenwart hält “Juli, August, September” zwei sehr unterschiedliche Enden parat, die keine Auflösungen bieten, sondern Ansätze zum Weiterdenken. “Die Sprachkunst ist die Disziplin, die den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zugleich begegnet”, hatte Grjasnowa bei ihrer Berufung an die Universität für Angewandte Kunst verlauten lassen. Sie sehe das als Möglichkeit, mit ihren Studierenden und Kollegen “neue kulturelle, politische und soziale Perspektiven und Zugänge immer wieder neu zu denken”. Zumindest für ihr neues Buch lässt sich sagen: Mission accomplished.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E – Olga Grjasnowa: “Juli, August, September”, Hanser Berlin, 224 Seiten, 24,70 Euro, Lesung und Gespräch, moderiert von Barbara Zwiefelhofer, heute, Dienstag, 17.9., 19 Uhr, im Literaturhaus Wien, Wien 7, Zieglergasse 26A)
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