Von: luk
Bozen – Jedes achte Paar in Südtirol ist von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen. Die Erfolgschancen einer künstlichen Befruchtung sind nach wie vor begrenzt, Leidensweg, Druck und Enttäuschung groß. Am Tag vor dem Muttertag organisiert das Rittner Haus der Familie zum sechsten Mal in Zusammenarbeit mit mehr als einem Dutzend Südtiroler Organisationen die Sensibilisierungskampagne „MutterNacht“. Dabei werden herausfordernde Seiten des Elternseins beleuchtet: Heuer geht es um den unerfüllten Kinderwunsch. Die Kampagne wurde Corona-bedingt in die sozialen Netzwerke verlegt und zeigt sich am Samstag, 9. Mai in zwei Diskussionen mit Betroffenen und Fachleuten. Ursprünglich hätte sie aus drei Teilen bestehen sollen: einer Fachtagung, einem Theaterabend und einem Aktionstag auf offenem Platz in Bozen. Zum Aktionstag ist ein Sammelband mit 25 Erfahrungsberichten von Südtiroler Paaren erschienen.
„Man fällt wieder und wieder in dieses dunkle Loch und fragt sich ‚warum’“, schreibt Bettina in ihrer Geschichte, die im Sammelband zur heurigen MutterNacht veröffentlicht wird. „Was stimmt mit meinem Körper nicht? Bin ich nicht fähig, Mutter zu werden, Mutter zu sein? Ist an mir etwas falsch? Habe ich etwas übersehen? Sollte ich zu diesem oder jenem Arzt gehen? Oder doch lieber zu einem Homöopathen oder Heilpraktiker? Wie viel Zeit und Geld soll ich noch in diesen Wunsch investieren? Und vor allem: Wie viel kann ein Mensch ertragen?“ Solche und ähnliche Fragen stellen sich neben der Autorin des Textes die meisten Paare, die von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind.
In der Öffentlichkeit wird kaum über künstliche Befruchtung gesprochen. Besonders in schwierigen Ausgangslagen müssen sich Paare auf einen langen und herausfordernden Weg zum Wunschkind einstellen. Nur bei jeder vierten befruchteten Eizelle, die in die Gebärmutter eingepflanzt wird, kommt es zur Schwangerschaft und nur in zwei Drittel dieser Fälle wird ein Kind geboren. Mit den Versprechungen der modernen Medizin wächst die Verzweiflung jener, die alle Varianten der künstlichen Befruchtung erfolglos durchlaufen haben. Der seelische Schmerz ist enorm. „Die psychologische Belastung ist so groß, weil es sich jeden Monat so anfühlt, als würde man eine geliebte Person verlieren”, erzählt eine betroffene Frau.
Silvia schreibt: „Wie es mir geht? Wie es uns geht? Warum fragt uns niemand? Wir trauern. Für uns ist jemand gestorben. Es hat niemand gelebt, aber wir trauern so sehr. Der Körper hat sich erholt. Eine neue Hormonbehandlung kann gestartet werden. Die Stimulation verläuft planmäßig. Tägliche Pilleneinnahme und Spritzen unter die Haut am Bauch. Es schmerzt. So soll ein Kind entstehen? Im sterilen Raum? Nun, mit Liebe hat es ja nicht funktioniert.“
Die Gesellschaft nimmt Kinderlosigkeit noch immer als abweichendes Verhalten wahr. Der soziale Druck wird aufgrund der Verheißungen der modernen Reproduktionsmedizin verstärkt. Paare erwarten sich durch technische Interventionen eine zuverlässige Behandlung. Bei Nicht-Erfolg halten sie Belastung und unverschämtes Nachfragen kaum aus. Der unerfüllte Kinderwunsch bestimmt ihr Leben, frustriert, belastet und stresst sie. In jeder Südtiroler Schulklasse sitzt durchschnittlich ein Kind, das sein Leben der Reproduktionsmedizin verdankt. Viele Kinder erfahren nie, dass sie nicht auf natürlichem Weg gezeugt wurden. Wenn sich der Kinderwunsch erfüllt, wollen die meisten Elternpaare nicht mehr darüber sprechen.
Die Hebamme Astrid Di Bella hat das Projekt MutterNacht im Auftrag des Hauses der Familie vor fünf Jahren initiiert und arbeitet auch 2020 mit: „Wir möchten Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, zeigen, dass es anderen Paaren ähnlich geht.“ Das gibt Halt. Es seien mehr Paare betroffen als gemeinhin angenommen. Das Tabu ist nach wie vor riesengroß. Umso mehr gelte es, darüber zu reden und Betroffene zu unterstützen.
Die Zeugung menschlichen Lebens gehört zum Intimsten eines Paares und soll es auch bleiben. Allerdings wollen das Haus der Familie und mehr als ein Dutzend Südtiroler Organisationen das Tabuthema aufbrechen. Seit Montag, 4. Mai werden auf der Facebook-Seite des Hauses der Familie und der übrigen Trägerorganisationen der Sensibilisierungskampagne (www.facebook.com/hausderfamilie.ritten) täglich zwei Geschichten vorgetragen.
Am Aktionstag, kommenden Samstag, 9. Mai finden hingegen auf Facebook zwei Live-Diskussionen statt. Um 12.00 Uhr diskutieren in deutscher Sprache Nora Nicolussi Moz, eine 18-jährige Schülerin, die durch künstliche Befruchtung entstanden ist; Tanja Gurschler, 35 Jahre alt, ungewollt kinderlos; Dr. Herbert Hanni, Primar der Abteilung Gynäkologie am Krankenhaus Bruneck und Martin Lintner, Moraltheologe an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen. Um 14.00 Uhr diskutieren in italienischer Sprache Alexander Schuster, Rechtsanwalt aus Trient, Carmen Raffa, Psychologin, Dienststelle Adoption, Michela und Roberto Terarziol, waren von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen und Sara Zanetti, Vorsitzende der Kammer der Hebammen der Provinz Bozen. Projektleiterin Astrid Di Bella moderiert die Diskussionen.
Die Broschüre mit den 25 Betroffenen-Geschichten ist ab 9. Mai auf der Webseite mutternacht.hdf.it zum Download bereit und kann im Haus der Familie unter info@hdf.it angefordert werden.